24. Jahrgang | Nummer 22 | 25. Oktober 2021

Die „Entzauberung“ des Heinrich Schliemann

von Alfons Markuske

Es wäre unbillig, von Schliemann zu verlangen,
dass er nicht ein Kind seiner Zeit hätte sein sollen
dass er nicht unter dem Einfluß der in ihr
herrschenden Anschauungen hätte stehen sollen.

Heinrich Alexander Stoll

Der Schlüsselroman, der dem Autor dieses Beitrages im reichlich juvenilen Alter von 12, 13 Jahren seinen ersten ernsthaften Berufswunsch – Archäologe zu werden – bescherte, war Heinrich Alexander Stolls „Der Traum von Troja. Lebensroman Heinrich Schliemanns“ (Erstveröffentlichung: 1956). Ein Buch, das der Autor – in der siebten Auflage beim damaligen Paul List Verlages Leipzig, 1964, – bis heute in Ehren hält.

Schliemann, Pfarrerssohn aus der Mecklenburger Provinz, reüssierte bekanntlich im reiferen Mannesalter und obwohl er nie ein Studium abgeschlossen hatte als autodidaktischer Archäologe. Er hielt sich für den Entdecker des Homerschen Trojas im nördlichen Kleinasien, des „Goldschatzes des Priamos“ und der goldenen Totenmaske von dessen griechischem Widerpart Agamemnon. Neben diesen von Schliemann durchweg zunächst historisch falsch zugeordneten hat er noch weitere höchst beeindruckende Artefakte aus klassisch-hellenistischer Zeit und anderen Altertumsepochen ausgegraben.

Die Stoll-Lektüre führte den Autor seinerzeit auf direktem Wege in die EOS „August-Herrmann-Francke“ zu Halle an der Saale, deren altsprachliches Angebot mit Latein und Griechisch anzunehmen ihm als erster Schritt zum gewünschten Berufe erschien. Weitere Literatur – vor allem Claus Backs „Der Weg nach Rom. Ein Winckelmann-Roman“ sowie Friedrich Hinkels „Tempel ziehen um“ über die Rettung der altägyptischen Anlage von Abu Simbel vor den ansteigenden Fluten des Assuanstausees – festigten des Autors archäologische Neigungen, bevor dieser gerade noch rechtzeitig realisierte, dass es ihn unter den abgeschotteten Bedingungen der DDR wohl eher zu prähistorischen Kreisgrabanlagen und Bandkeramikfundstätten in seinem Heimatbezirk verschlagen hätte denn an die Gestade und in die Regionen des klassischen Altertums. Und so fiel die Berufswahl denn doch gänzlich anders aus …

*

Frank Vorpahl – „Schliemann und das Gold von Troja. Mythos und Wirklichkeit“ –, der sich im letzten Drittel seines Buches nolens volens doch noch dazu durchringt, Schliemann zumindest zu konzedieren, der sei ein „widersprüchliche[s] Genie“ (236) gewesen, scheint es durchgängig darum zu gehen, das Objekt seines Schreibens durch Skandalisierung final zu „entzaubern“. Er diagnostiziert bei dem früheren „Krämergehilfen in Fürstenberg an der Havel” einen „Hang, sich […] auf Kosten der Wahrheit als ‚Jäger der verlorenen Schätze“ zu idealisieren“, und dekonstruiert Schritt um Schritt jenen Mythos, den Schliemann systematisch um sich selbst geschaffen haben soll. Das gelingt umso gründlicher, als Vorpahl ausweislich seines umfangreichen Quellenapparates und seiner üppigen Bibliographie – letztere enthält auf zwei vollen Seiten auch nicht zu knapp Eigenes – Stoll offenbar gar nicht zur Kenntnis genommen hat. Das ist umso bedauerlicher, weil jener auf der Basis der gleichen historischen Quellen, die im Übrigen auch bei Stoll minutiös dokumentiert sind, zu teilweise gänzlich anderen Schlüssen gelangt war als Vorpahl jetzt.

Nach des Letzteren Lektüre weiß der Leser nun allerdings, dass es den „Traum von Troja“ des Knaben im ärmlichen elterlichen Hause – seine frühe Bekanntschaft mit Homers Gesängen über den trojanischen Krieg und die anschließende Odyssee eines der Haupthelden sowie den daraus entspringenden kindlichen Vorsatz, dereinst die Stadt des Königs Priamos zu finden und auszugraben – nie gegeben hat. Alles nur eine spätere Erfindung Schliemanns zum Zwecke der Selbststilisierung und -erhöhung. Wie auch dessen Behauptung, seine jahrzehntelange Geschäftstätigkeit, die ihm zu immensen finanziellen Mitteln verhalf, mit denen er seine Grabungen später zu finanzieren vermochte, sei nur erfolgt, weil er Geld „als Mittel zur Erreichung […] meines großen Lebenszwecks betrachtete“. Für das „von ihm […] immer wieder beschworene frühe Interesse an Homer“, so Vorpahl, „hat Heinrich Schliemann nur einen einzigen Zeugen: sich selbst“. Zwar geht Vorpahl (als retardierendes Moment?) nach dieser Feststellung einen halben Schritt zurück: „Ausschließen lässt sich das (frühe Interesse – A.M.) nicht.“ Doch nur um nachfolgend umso kräftiger hinzulangen: „Ansonsten aber spekulierte der 46-jährige schlicht darauf, dass es einen ‚Markt‘ für das reale Festmachen antiker Legenden gab, der ein erhebliches Wachstumspotenzial versprach […]. Wie ein Dezennium zuvor als Geschäftsmann in Moskau wäre er dann einmal mehr der ‚schlaueste, durchtriebenste und fähigste‘, der daraus Kapital schlagen würde.“ So auf den Seiten 46/47 von Vorpahls Buch, und entsprechend wird Schliemann nachfolgend immer wieder präsentiert – als zwar sehr erfolgreicher, doch gleichwohl unseriöser, ja windiger Spekulant und Gschaftlhuber.

Auch zu Stolls Zeiten hatten Kontroversen um Schliemanns Traum von Troja übrigens schon eine längere Geschichte. Im Zusammenhang mit der Autobiographie des Ausgräbers etwa verwies Stoll auf die früheren Biographen Emil Ludwig und Ernst Meyer: Diese hätten der Selbstdarstellung nur „einen geringen biographischen Wert“ zugeschrieben und die Meinung ausgesprochen, „Schliemann habe, als Sechzigjähriger auf seine Jugend zurückblickend, die Ereignisse und Gedanken der Vergangenheit romantisch verklärt gesehen und die Tatsachen entsprechend frisiert“. Dem hielt Stoll entgegen: Da Ludwig und Meyer „die Briefe und Tagebücher Schliemanns bekannt waren, hätten sie aus ihnen entnehmen sollen, daß die in der Selbstbiographie des Sechzigjährigen niedergelegten Tatsachen und Eindrücke auch in den Aufzeichnungen des Zwanzig- und Dreißigjährigen vorhanden sind, so daß also von einer Verklärung und Frisierung nicht die Rede sein kann“.

Und im Falle des außerordentlich großen Fundes an Gold-Gegenständen, der bei Schliemanns Troja-Grabungen 1873 zutage gefördert und vom Finder ebenso umgehend wie werbewirksam zum „Schatz des Priamos“ geadelt wurde, war die nachfolgende Entwicklung ebenfalls möglicherweise nicht ganz so holzschnittartig wie von Vorpahl aufgeschrieben. Zwar brachte Schliemann den Schatz unter Umgehung der türkischen Behörden und somit illegal, als Schmuggelware, außer Landes, doch wenn es bei Vorpahl dazu heißt: „Das Gold aus Troja: Heinrich Schliemann mochte es ausgegraben, mythisch aufgeladen und […] präsentiert haben – doch es gehörte ihm nicht.“, so ist das nur ein Teil der Wahrheit. Denn zu jener Zeit grub Schliemann nicht nur komplett auf eigenes Risiko und auf eigene Kosten, sondern auch auf der Grundlage von Genehmigungen der Hohen Pforte, der osmanischen Zentralgewalt, denen zufolge ihm die Hälfte aller Funde sowie das Recht zustand, seinen Teil bei Abreise mitzunehmen. Dazu Heinrich Alexander Stoll im Zusammenhang mit dem Goldfund: „Nach dem Ferman (der Grabungsgenehmigung – A.M.) steht der türkischen Regierung die Hälfte aller Funde zu. Aber wie soll man die untrennbare Einheit dieses Schatzes zerteilen? Mir ein Ohrring, dir der zweite, mir die rechte Hälfte des Diadems und dir die linke?“ Vielmehr müsse „um der Wissenschaft willen der Fund in seiner Gesamtheit beieinander bleiben“. Und: „Ein weiterer gewichtiger Grund kommt hinzu: die Hohe Pforte hat den Vertrag nicht gehalten. Plötzlich, aus heiterm Himmel ist im vorigen Jahr eine lakonische Nachricht gekommen, die Bedingung, nach der Schliemann seinen Anteil ungehindert aus der Türkei ausführen dürfe, sei aufgehoben. Dafür werde ihm gestattet, seine Funde innerhalb der Türkei nach Belieben zu verkaufen. Schliemann hat gerast, als dieser Brief kam. […] Gräbt er nach Handelsware oder um einen Gewinn zu erzielen? Gibt er nicht vielmehr um der Wissenschaft, um seines Homer willen in jedem Jahr Zehntausende aus, ohne irgendeinen Lohn dafür zu erwarten außer dem Dank der humanistischen Welt?“ Nach Schliemanns Auffassung liegt „der Fall […] sonnenklar: die Türkei hat den Vertrag zuerst gebrochen, also braucht Schliemann sich auch nicht mehr an ihn zu halten.“ Rechtmäßiges Eigentum am gesamten Schatz erwarb Schliemann indessen später durch eine entsprechende Einigung mit dem türkischen Staat.

*

Im letzten Kapitel seines Buches befasst sich Vorpahl mit „Schliemanns Gold als Beutekunst“. Der Schatz war – zum Schutz gegen Einwirkungen des Weltkrieges in einen Berliner Hochbunker ausgelagert – im Mai 1945 unversehrt in die Hände der Roten Armee gefallen und wie unzählige andere Kunstschätze nach Moskau abtransportiert worden. Als die UdSSR 1958 schließlich anderthalb Millionen der requirierten Exponate an die DDR zurückgab – darunter das Fries des Pergamon-Altars nach Berlin und 1240 Kunstwerke an die Dresdner Gemäldegalerie, darunter Raffaels Sixtinische Madonna – war Schliemanns Goldschatz nicht dabei. Der befindet sich bis heute in Moskau. Vorpahl berichtet über die seit Ende des Kalten Krieges unternommenen diversen deutschen Versuche zur Rückführung.

Zweifelsohne war flächendeckende Verschleppung von Kunst durch die Sowjetunion aus deren ostdeutscher Besatzungszone (SBZ) seinerzeit und bis heute ein Verstoß gegen geltendes Völkerrecht. Die deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg waren jedoch dermaßen monströs, vor allem in Gestalt des Vernichtungskrieges gegen die Völker der Sowjetunion und der industriellen Auslöschung der europäischen Juden, dass die Alliierten den bis dato konstituierenden bürgerlichen Strafrechtsgrundsatz nulla poena, nullum crimen (keine Strafe ohne Gesetz) fallen ließen und den Hauptkriegsverbrechern in Nürnberg den Prozess machten, obwohl deren Taten zum Zeitpunkt ihrer Begehung nach deutschem Recht nicht strafbar waren.

Ähnlich monströs verhielt es sich mit den durch Wehrmacht, SS und andere Kräfte in der UdSSR angerichteten Zerstörungen, massenhaft Kunst- und Kulturgüter eingeschlossen. Was dafür nach Kriegsende an offiziellen Reparationen erst aus der SBZ, dann aus der DDR in Richtung Moskau geflossen ist, kompensierte nur einen geringen Teil der materiellen sowjetischen Verluste.

Dass Vorpahl von denen im Bereich von Kunst und Kultur als einziges konkretes Beispiel das von Deutschen geraubte und nie wiederaufgefundene Bernsteinzimmer aus dem (durch Kriegshandlungen weitgehend zerstörten) Katharinenpalast in Zarskoje Selo nahe Leningrad (heute wieder: Sankt Petersburg) in seinem Buch benennt und im Übrigen keinerlei Angaben zum Umfang der kulturellen Gesamtschäden der Sowjetunion macht, entspricht zwar der schon in der alten Bundesrepublik gängigen Herangehensweise und lässt seine Darstellung der deutschen Rückgabebemühungen im Hinblick auf den Schliemann-Schatz auch als moralisch gerechtfertigt erscheinen, überschreitet allerdings die Grenze zum unlauteren Taschenspielertrick denn doch deutlich.

Frank Vorpahl: Schliemann und das Gold von Troja. Mythos und Wirklichkeit, Galiani, Berlin 2021, 364 Seiten, 24,00 Euro.