24. Jahrgang | Nummer 20 | 27. September 2021

Indien, Afghanistan und die Taliban

von Edgar Benkwitz

Die vergangenen fünf Wochen waren für die indische Diplomatie eine äußerst anstrengende Zeit – alles drehte sich um die Machtergreifung der Taliban in Afghanistan. Für Indien steht viel auf dem Spiel, es geht letztendlich um Fragen der Sicherheit und Einheit des Landes. Diese zu unterminieren war das Ziel terroristischer Anschläge islamistischer Organisationen in der Vergangenheit, deren Spuren nach Pakistan und darüber hinaus nach Afghanistan führten.

International gesuchte Terroristen haben nun mit Unterstützung Pakistans in Kabul das Sagen. Auf die schnelle Machtübernahme der Taliban war Neu Delhi nicht vorbereitet. Wie viele andere Staaten vertraute man den Amerikanern und deren Lageeinschätzung. Infolgedessen musste sich die Regionalmacht Indien in die verzweifelten Aktionen der NATO-Staaten einreihen, um ihre Bürger schnell aus dem Land zu bringen. Die Konsulate und die Botschaft wurden – anders als China, Russland oder der Iran es taten – geschlossen, die Diplomaten einschließlich des Botschafters mit einer Militär-Transportmaschine am 17.August nach Indien geflogen.

Offensichtlich wurde auch versäumt, frühzeitig Kontakte zu dem Taliban-Büro in Katar zu suchen. Diese wurden erst Ende Juni hergestellt, das erste offizielle Treffen zwischen dem Leiter des politischen Büros der Taliban in Doha, S. M. Abbas Staneskai, und dem dortigen indischen Botschafter fand gar erst am 31.August statt. Der Taliban-Vertreter hob nach dem Gespräch die bedeutende Rolle Indiens in der Region hervor, die Beziehungen auf dem Gebiet des Handels, der Wirtschaft und der Politik sollten erhalten werden. Der Staatssekretär im indischen Außenministerium gab zudem bekannt, dass die Taliban zugesichert hätten, von ihrem Territorium keine terroristischen Aktivitäten gegen Indien und andere Staaten zuzulassen.

Diese Äußerungen ließen ein gewisses Gefühl der Zuversicht über das künftige Verhältnis zu den neuen Machthabern in Kabul aufkommen. Doch spätestens am 8.September, als die Zusammensetzung der Taliban-Regierung bekannt gegeben wurde, zerstoben diese Hoffnungen. Mullah Baradar, das „öffentliche Gesicht“ der Taliban, verhandlungs- und kontakterfahren, neun Jahre in pakistanischer Haft – wie indische Medien immer wieder zu betonen wussten –, wurde beiseite gedrängt. Andere, wie Abbas Staneskai mit seinen Zusagen an Indien, tauchten nicht mehr auf. Ganz zu schweigen von Vertretern früherer Regierungen wie Abdullah Abdullah oder Hamid Karzai. Dagegen erhielt das terroristische Haqqani-Netzwerk mit seinen ausgesprochen antiindischen Positionen einflussreiche Ministerposten. Von Inklusivität der Regierung war nicht mehr die Rede. In Neu Delhi besteht kein Zweifel, dass der Chef des pakistanischen militärischen Geheimdienstes ISI, Hameed, bei seinem Aufenthalt in Kabul die entscheidenden Weichen bei dieser Regierungsbildung stellte.

Die indische Regierung ist durch das jüngste Geschehen in Kabul gewarnt. Sie befürchtet ein erneutes Aufflackern terroristischer Aktivitäten, die auch ihr Unionsterritorium Kaschmir betreffen könnten. Aufmerksam wird die Politik Pakistans verfolgt, die sich vor die Taliban-Regierung stellt und gleichzeitig versucht, die Kaschmirfrage erneut ins Zentrum der Weltöffentlichkeit zu rücken. Der nationale Sicherheitsberater der pakistanischen Regierung, Yusuf, hatte am 15. September die westlichen Staaten aufgerufen, ihre „wait and see“-Politik gegenüber der Talibanregierung aufzugeben und diese anzuerkennen. Sie sollten nicht auf frühere Versprechen und Zusagen beharren, da ein Kollaps des Landes drohe, der den Nährboden für Terrorismus liefere. „ISIS ist dort bereits vorhanden, ebenfalls die pakistanischen Taliban sowie Al-Qaida“, wusste die höchste Sicherheitsautorität Pakistans zu berichten. Und bereits am 12. September stellte Yusuf gemeinsam mit dem Außenminister des Landes, Qureshi, ein 131 Seiten umfassendes Dossier zu Kaschmir vor, das Indien schwerste Menschenrechtsverletzungen vorwirft. Es gipfelt in der absurden Behauptung, dass Indien mehrere Ausbildungslager des Islamischen Staates (ISIS) unterhält, in denen Terroristen gegen die („Freiheits“)-Kämpfer in Kaschmir ausgebildet würden.

Auf der am 17.September stattfindenden Gipfelkonferenz der Schanghai-Gruppierung in Tadschikistan wiederholte der pakistanische Premierminister Imran Khan im Kern die Aussagen seines Sicherheitsberaters, er trug sie nur gemäßigter, „staatsmännischer“, vor. Er warb für die Anerkennung der neuen Realität, die durch die Machtübernahme der Taliban entstanden sei und kritisierte „negative Einstellungen und Propaganda“ sowie eine Kontrolle „von außen“, da damit die Aussichten auf Frieden unterminiert würden. Wie ein Hohn klang die Feststellung: „Es ist ein Zeichen der Erleichterung, dass all das ohne Blutvergießen, ohne Bürgerkrieg und ohne Massenflucht vor sich ging.“ In einem Interview sprach der pakistanische Premier am 17.September offen davon, dass sein Land die Taliban militärisch unterstützt habe: „Wenn Pakistan den Taliban geholfen hat, den Krieg gegen die USA zu gewinnen, bedeutet das, dass Pakistan stärker als die USA und Europa sind […].“ Und er forderte, dass die USA mit den Taliban verhandeln und sie anerkennen, da ansonsten die Schwierigkeiten in der Region eskalieren könnten.

Diesen arroganten und schon erpresserischen Zug der pakistanischen Politik versucht die indische Regierung mit Ruhe, allerdings nicht ohne Sorge, zu begegnen. Premierminister Modi wiederholte vor dem Forum der Schanghai-Gruppierung, dass die Ereignisse in Afghanistan große Auswirkungen auf sein Land haben. Die dort vorhandene Instabilität und fundamentalistische Ideologie würden darüber hinaus extremistische Organisationen in der ganzen Welt stärken. „Alle Staaten sind Opfer des Terrorismus geworden, zusammen sollten wir sicherstellen, dass das Territorium Afghanistans nicht benutzt wird, um Terrorismus in irgendeinem Land zu verbreiten“, so Modi. Er schlug vor, dass die Weltgemeinschaft Entscheidungen über die Anerkennung des neuen Regimes nur nach gründlichen Beratungen und kollektiv treffen sollte. Den Vereinten Nationen sollte in Fragen zu Afghanistan eine zentrale Rolle zukommen. Eine Idee, die auch der russische Präsident in seiner Rede erwähnte.

Die indische Regierung ist gegenwärtig auf der Suche nach Gleichgesinnten, um gemeinsam den Druck auf die Taliban-Regierung und ihre Unterstützer zu erhöhen. So waren kurz nacheinander der CIA-Direktor Burns, der britische MI 6-Chef Moore sowie Nikolai Petruschew, Sekretär des russischen Sicherheitsrates zu Konsultationen in Neu Delhi. Dabei wurden nach S. D. Pradhan, ehemaliger Geheimdienstkoordinator der indischen Regierung, Maßnahmen zur Verhinderung des internationalen Terrorismus von afghanischem Boden aus erörtert. Mit Russland einigte sich Indien bereits konkret, die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Sicherheit zu vertiefen. Einzelheiten wie die Verfolgung terroristischer Routen, illegaler Migration sowie von illegalem Rauschgifthandel wurden bekannt gegeben. Russland, das eine Infiltration von Terroristen in Gebiete seiner mittelasiatischen Verbündeten befürchtet, hatte bereits mehrfach durch Präsident Putin auf die instabile Lage in Afghanistan hingewiesen und vor Auswirkungen auf die globale und regionale Sicherheit, insbesondere auf die Nachbarstaaten Afghanistans, gewarnt.

Auch zum Iran verstärkte Indien auf der Ebene der Außenminister seine Kontakte. Teheran kritisierte scharf die neue Taliban-Regierung, die nicht inklusiv sei, da Minderheiten (wie der schiitische Bevölkerungsanteil) nicht berücksichtigt seien. Pakistan wurde beschuldigt, sich offen in die inneren Angelegenheiten Afghanistans einzumischen.

Die Lage in und um Afghanistan ist gegenwärtig sehr beweglich. China und Pakistan versuchen unverhohlen, ihren Einfluss auf das afghanische Geschehen geltend zu machen. Während beide Staaten offensichtlich abgestimmt vorgehen, kann man das von anderen engagierten Staaten – trotz übereinstimmender Lagebeurteilungen in vielen Fragen – wie Indien, Russland und dem Iran nur bedingt feststellen. Bleibt abzuwarten, wie sich die USA verhalten, die durch Außenminister Blinken ein Überdenken ihres Verhältnisses zu Pakistan angekündigt haben.