Wer im Zug sitzt, gar auf einem Fensterplatz, und pausenlos auf sein Smartphone starrt, oder von Station zu Station telefoniert, lautstark und belanglos, oder kein Buch zur Hand hat und gelangweilt gähnt, dem entgeht ein Erlebnis: der Blick durchs Fenster auf die Welt und ihre Überraschungen, die sie überall bereithält.
Das Gewimmel und Gewusel auf den großen Bahnhöfen: „Ich habe meine Brille im Zug vergessen.“ – „Pass doch besser auf!“ – „Paul, wir sind auf dem falschen Bahnsteig.“ – „Nein, sind wir nicht!“ – „Doch!“ – „Nein!!“ – „Olivia, heul nich’ und wink dem Opi!“ – Umarmungen, Abschiedstränen. Dann gleiten die Waggons aus der Halle und blättern das Landschaftsbilderbuch auf.
Knallgelbe Rapsfelder im Monat Mai. In der Sommerzeit roter Mohn in erntereifem Korn. Der Herbst mit bunten Laubwäldern. Und Raureif auf Busch und Baum in den Wintertagen. Wellige Endmoränenhügel, steile Felswände, bedrohlich und zum Greifen nahe. Weite Ebenen. Graugänse ziehen im Pfeilflug über den Himmel. Der Milan, die stolze Gabelweihe, späht nach Mäusen auf den abgeernteten Flächen. In der Mittagshitze sammeln sich Kühe unter einem schattenspendenden Baum (man denkt an Miniaturen niederländischer Maler). Sonnenauf- und -untergänge mitsamt den Wolkenspielen. Und der Mond in seinen Wandelphasen während einer Nachtfahrt.
Strömender Regen an den Zugfenstern; danach die blaue Stunde und der erste Regenbogen, farbstark in all seiner Pracht. Ein Wunsch ist frei: Ich möchte … ich möchte mal auf einem Seil tanzen (mit der nötigen Sicherung!) über einer kleinen Stadt, wenn unten Markttag ist.
Hält der Zug auf freier Strecke, weil die Signalanlage blockiert ist, oder wegen irgendwelcher anderen technischen Mängel, wie das Zugpersonal verkündet und um Verständnis bittet, so zeigt sich das ruhige Detail. Gräser, vom Wind bewegt. Trauerweiden, die ihre grüne Trauer sanft im Takte schaukeln, als wollten sie ein Trostlied singen; friedlich grasende Rehe. – Fahrt über einen breiten Strom, Lastkähne und Ausflugsschiffe begegnen sich. Entlang einem Rinnsal. – Alles zieht vorüber wie ein Film im Zeitraffertempo.
Über dem Schilfgürtel am Seeufer liegt feiner Dunst. Darin hat sich ein Augenblicksgedicht verfangen:
Auf dem Wasser schwimmt ein Floß,
nicht zu klein und nicht zu groß.
Drauf steht ein Tisch und auch ein Stuhl.
Wer saß da wuhl?
Schlagwörter: Renate Hoffmann, Zugfahrt