Nach Monaten der Isolation haben sich viele Leute zu Menschenansammlungen zusammengefunden, wie ich bei meinen nachgeholten Festivalbesuchen in Schwerin und in der Lausitz feststellen konnte. Auf dem Weg zum Schweriner Capitol in der Wismarschen Straße musste ich mich durch eine Menschentraube stehlen. Was war los? Man stand vor einem Briefwahllokal an. Sehr demokratisch! In der Oberlausitz fuhr ich sonntags durch Ortschaften, in denen Bürgergruppen mit Transparenten gegen Corona-Schutzmaßnahmen protestierten. Auch das demokratisch. Aber wenn sie Erfolg haben sollten, wird es im kommenden Jahr wieder Festivals geben, die verschoben und gekürzt werden müssen!
Beide Festivals, die ursprünglich im Mai stattfinden sollten, zeigen traditionell internationale Filme – das Filmkunstfest MV mit einer stärkeren Konzentration auf deutschsprachige Produktionen. Das wird aber nicht so eng gesehen, als dass nicht ein Film, der zu 90 Prozent italienische Dialoge hat, den Hauptpreis gewinnen konnte. „Primavera Duemilaventi – Frühling 2020“ heißt der weitgehend in Berlin entstandene Streifen der Autorin Lucia Chiarla und des Kameramannes Ralf Noack, für den auch die beiden Darsteller Beniamino Brogi und Sandro di Stefano als Regisseure zeichnen. Die Pandemie ist hier Thema: Vater und Sohn, der eine isoliert (aber mit Braut) in Italien, der andere isoliert in Berlin. Per WebCam kommen sie sich so nahe, wie in der persönlichen Begegnung nicht. Die Filmemacher erhielten dafür den Förderpreis der DEFA-Stiftung wie auch den FIPRESCI-Preis der internationalen Filmjournalisten.
Einen Bogen um fast ein ganzes Jahrhundert schlug der Film „Walter Kaufmann – Welch ein Leben!“ von Karin Kaper und Dirk Szuszies. Der Schriftsteller Walter Kaufmann (1924–2021), der trotz seines hohen Alters bis zum Schluss journalistisch arbeitete, hatte als verfolgter Jude eine Odyssee von Deutschland mit einem der letzten Kindertransporte ins zunächst rettende Großbritannien, doch nach Kriegsbeginn wurde er als „feindlicher Ausländer“ nach Australien deportiert. Er fuhr zur See, begann zu schreiben, wurde nach dem Krieg von der Gewerkschaft nach Europa delegiert. In der Bundesrepublik erlebte er Antisemitismus, weshalb er sich in der DDR niederließ. Er schrieb neue Bücher, anfangs noch in Englisch, später auf Deutsch, und berichtete für die DDR-Presse von den Brennpunkten der Welt: von Kuba, Irland, Israel, den USA. Die beiden Filmemacher kamen mit ihren Dreharbeiten in die Pandemie, konnten nicht reisen. Kollegen machten in den jeweiligen Ländern Aufnahmen nach den Vorgaben aus Berlin. Zu den Zeitzeugen, die sich an Walter Kaufmann erinnern, zählt auch Angela Davis, über die er ein Buch schrieb. Gut, dass dieser Film im Herbst vielerorts zu sehen sein wird!
Der Hauptpreis im Spielfilmwettbewerb ging nach Österreich. Der aus Paraguay stammende und in Wien lebende Regisseur David Clay Diaz war zusammen mit dem in Paris lebenden Mehdi Meskar, einem der jungen Hauptdarsteller des Episodenfilms „Me, We“, nach Schwerin gekommen. Der kunstvoll ineinander verschachtelte Streifen erzählt in oft tragikomischen Szenen verschiedene Aspekte aus dem Leben von Flüchtlingen – sowohl von der Flucht an sich, als auch von den oft gutwilligen, aber hilflosen Unterstützern. Vor allem diejenigen, die meinen, einheimische Frauen vor Zuwanderern schützen zu müssen, bekommen ihr Fett ab.
Besonderen Genuss bescherte in Schwerin der Ehrenpreisträger Ulrich Tukur. Er bestritt mit Band den musikalischen Teil der Eröffnungsveranstaltung mit der teils filmischen Unterhaltungsmusik der zwanziger bis vierziger Jahre. Der bundesdeutsch sozialisierte Künstler gestand, dass seine Leidenschaft befeuert wurde, weil er meist das DDR-Fernsehen empfangen konnte und „Willi Schwabes Rumpelkammer“ ein Pflichttermin für ihn war! In der Tukur gewidmeten Retrospektive lief auch die französisch-griechische Koproduktion „Adults in the Room“ von Costa-Gavras, die sich mit der griechischen Schuldenkrise von 2015 auseinandersetzt und in der Tukur den damaligen deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble verkörpert. Der Film hat in Deutschland keinen Verleih gefunden. Umso dankbarer ist man, dass es Festivals gibt, die einem diesen anderen Blick nahebringen.
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Dieser Costa-Gavras-Film wurde auch in der Nebenreihe „Mutter Europa“ auf dem Neiße-Filmfestival (NFF) vorgestellt. Der Fokus des Festivals liegt jedoch auf Filmen des Dreiländerecks Deutschland – Polen – Tschechien, doch speziell durch Koproduktionen sind auch andere Länder im Wettbewerb vertreten. So kam der Hauptpreisträger im Spielfilmwettbewerb aus der Slowakei. „Diener“ (Sluzobnici) von Ivan Ostrochovský als Koproduktion mit Tschechien erzählt von zwei jungen Männern im Priesterseminar, die zur Zeit der Niederschlagung des Prager Frühlings vor die Alternative gestellt werden, den Staat an der Seite des Vatikans zu verteidigen oder Untergrundarbeit zu leisten. Der in Schwarzweiß gedrehte Film zeigt eine strenge, stilisierte Bildsprache (Kamera: Jan Chipík), die beeindruckt. Doch leider werden Motive der handelnden Charaktere kaum erklärt – es bleibt die Kritik an repressiven staatlichen Maßnahmen. Der Preis als bester Dokumentarfilm ging nach Polen. „Normales Land“ (Zwyzcajny Kraj) von Tomasz Wolski ist ein Kompilationsfilm aus Film- und Videomaterial des polnischen Sicherheitsdienstes der sechziger bis achtziger Jahre, das dokumentiert, wie sich der Alltag durch Ausspähung in eine bedrohliche Situation verwandeln kann. In einer Videobotschaft betonte der Regisseur, dass sein Film nicht rückwärtsblickend sei, sondern vielmehr eine Mahnung für heute, da jeder die Geräte mit sich trägt, die Überwachung ermöglichen.
Den Preis fürs beste Drehbuch konnte Regisseur Marcus Lenz bei der Preisverleihung in der Grenzstadt Ebersbach in Empfang nehmen. In deutsch-ukrainischer Koproduktion entstand seine kammerspielartige Sozialstudie „Rivale“ um einen 9jährigen Ukrainer, der zu seiner illegal in Deutschland arbeitenden Mutter kommt. Die Krankenpflegerin entscheidet sich, bei ihrem Brotherrn zu bleiben, was der Junge nicht verstehen kann. Überraschend die Leistung des kleinen Yelizar Nazarenko, der dem Charakterdarsteller Udo Samel in den gemeinsamen intensiven Szenen ein ebenbürtiger Partner ist.
„Es ist bloß gut, dass die NFF-Poster bei uns im Ortsbild beweisen: es gibt noch eine andere Kultur!“, sagte ein Zuschauer in Großhennersdorf und bezog sich auf Wahlplakate von AfD und NPD, die hier das eine und andere Ortsbild prägten. Gerade durch ein Festival wie dieses können die Rechten keine Oberhand gewinnen!
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