Bei der RuhrTriennale gehört die künstlerische Erneuerung zur Festspiel-DNA. Alle drei Jahre wechselt die künstlerische Leitung und bestimmt das Programm neu. Die Kontinuität liegt in diesem Wechsel und in den besonderen Spielstätten. Dieses Unikum in der deutschen Festspiellandschaft ist ein kulturelles Erbstück, das die Region Gerard Mortier zu verdanken hat. Der holte die Stein gewordene Industrie-Geschichte für die Künste zurück in die Gegenwart, setzte sie neben die Banalitäten des Alltags und ließ sie im besten Fall auf sie zurückwirken. Wobei dem Besucher von außerhalb schon die Differenz zwischen dem Erscheinungsbild in den Innenstädten des Ruhrgebietes und dem des Triennale-Publikums ins Auge fällt.
Die Jahrhunderthalle in Bochum ist so etwas wie die informelle Hauptspielstätte. Im Landschaftspark Duisburg-Nord ist es eine Gebläsehalle, in Essen die Zeche Zollverein, andere Spielstätten sind in Gladbeck, Bottrop, Dortmund, Dinslaken und Mühlheim. Was Mortier hier von 2002 bis 2004 in Gang gesetzt hat, haben Jürgen Flimm, Willy Decker, Heiner Goebbels, Johan Simons und zuletzt Stefanie Carp weitergeführt.
Für die nächsten drei Jahre hat die Schweizer Regisseurin Barbara Frey das Zepter übernommen und selbst gleich zwei Inszenierungen beigesteuert: Edgar Ellen Poes „Untergang des Hauses Usher“ und „Die Toten“ nach James Joyce.
Gleich zum Auftakt in der Maschinenhalle der Zeche Zweckel in Gladbeck beschwört sie hochatmosphärisch mit Edgar Allen Poes Novelle – nebst einigen Ergänzungen aus „Die Grube und das Pendel“, „Die Affäre in der Rue Morgue“, „Berenice“ und „Das Feeneiland“ – eine Gruselgeschichte mit Musik herauf. Dafür hat sie sich als Bühnenbild die Maschinenarchitektur der Halle so anverwandelt, dass man sich fragt, wie man diesen Raum im Wiener Burgtheater, mit dem koproduziert wurde, auf die Bühne zaubern will. In Gladbeck stellt sich die Schauerromantik schon durch die mit Brettern vernagelten Fenster ein, die nur fahles Abendlicht durchlassen (Bühne: Martin Zehetgruber und Stefanie Wagner) und sich die Schauerromantik von selbst einstellt. Dazu ein paar Stühle, zwei Konzertflügel und etwas Schlagwerk für den minimalistischen Sound, der ausführlich in den Abend hämmert. Der Rest ist Text. Weil der streckenweise auch in ungarischer und englischer Sprache daherkommt, darf man bei einem der imaginierten Gespenster wohl auch auf den Zeitgeist tippen. Aber ansonsten funktioniert dieses choreografierte, oft chorische Sprechen und Schreiten ganz hervorragend. Auch weil exzellente Profis (unter anderem mit Burg-Schauspieler Michael Maertens als übersensibler Roderick Usher) am Werke sind. Die freilich führen in den pausenlosen, gut zwei Stunden vor allem ihre Kunstfertigkeit vor, um Außergewöhnliches zu bieten.
Noch (wort-)musikalischer ist ein Mitbringsel Freys aus Zürich. Dort hat sie (als Intendantin des Schauspielhauses) „Die Toten“ nach James Joyce inszeniert und jetzt in der Jahrhunderthalle als zweite zentrale Schauspielproduktion ihres ersten Triennale-Jahrgangs über die Bühne gehen beziehungsweise im gespenstischen Bühnenhaus-Zimmerlabyrinth aus Flur, Musizier- und Esszimmer rotieren lassen, das auch in diesem Fall Martin Zehetgruber beigesteuert hat. Dem Text der Erzählung hat sie Passagen aus „Ulysses“ und „Finnegans Wake“ untergemischt und auch hier eine wort-musikalische Melange produziert, in der viel (ziemlich gut) gesungen wird. Mit fünf hochmusikalischen Schauspielern und Jörg Kienberger als integriertem Klangkünstler. Claudius Körber trägt die „Die Toten“ vor, Michael Maertens imaginiert die Figur des Gabriel Conroy. Er hält bei einer Familienfeier eine Tischrede, die Anstoß erregt. Auch kommt raus, dass seine Frau als junges Mädchen einen Jungen liebte, der, nur weil er sie vor einer Abreise noch einmal sehen wollte, mit 17 starb. Die Lebenstrauer, die darin steckt, dominiert, vermittelt sich durch die Worte, den Raum, die Atmosphäre.
Das Faszinierende ist die präzise Melancholie der Fremdartigkeit, die mit einer Art ins Rabenschwarze gespiegelter Tschechow-Atmosphäre ihre suggestive Wirkung entfaltet. In Zeiten eines vorherrschenden, lautstark nach außen gebrüllten Bruchstücktheaters liefert Barbara Frey mit ihrer gleichsam auf den Text gerichteten atmosphärischen Innerlichkeit ein leises, aber entschiedenes ästhetisches Statement.
Das gilt analog auch für die beiden zentralen Produktionen des Musiktheaters, die Neuinszenierung von Olga Neuwirth Jelinek-Vertonung „Bählamms Fest“ aus dem Jahre 1999 und für die Uraufführung des Musiktheaters „D · I · E“ von Michael Wertmüller.
Für „Bählamms Fest“ setzen das irische Regieduo „Dead Centre“ (Ben Kidd und Bush Moukarzel) und Ausstatterin Nina Wetzel in der Jahrhunderthalle auf eine atmosphärisch karge, Lear-taugliche Heidelandschaft, in der es in und um einen Familiensitz ziemlich surreal zugeht. Wände klappen um, Projektionen vervielfältigen Menschen. Es wird bedeutungsschwanger gejagt und gestorben. Die herrisch divenhafte Schwiegermutter (Hilary Summers) regiert vom Rollstuhl aus vor allem Sohn Philip (Dietrich Henschel). Dessen Ex-Frau Elizabeth (Gloria Rehm) und die flippige Theodora (Katrien Baerts) rebellieren, ein Wolfsmensch Jeremy (Andrew Watts) taucht auf. Aufsteigende Erinnerungen und Geister der Vergangenheit verselbständigen sich. Es gibt Hetzjagden, Rituale aus dem Reich der Lämmer oder Engelserscheinungen. Vor allem die Musik trägt den Abend dank Sylvain Cambreling und dem fabelhaften Ensemble Modern, samt allen Live-Electronic-Zugaben. Hin und wieder blitzt dabei auch schwarzer Witz auf. Alles in allem – ein schaurig (vielleicht ein wenig zu) schöner Abend, der aber an diesen Ort und in unsere Zeit passt!
Mit innovativem Ehrgeiz ging es in der Kraftzentrale des Landschaftsparkes Duisburg-Nord bei der Uraufführung von Michael Wertmüllers Musiktheater „D · I · E“ zur Sache. Einer Handlung oder der bekannten Aufteilung eines Theaterraumes verweigert sich der sonderbare, faszinierend rätselhafte Abend mit Vehemenz.
Text- oder besser Wort-Lieferant für diesen Abend, der vor allem auf der Autonomie der Künste besteht, ist Rainald Goetz. Die Musik hat Wertmüller hier aus den verschiedensten Ecken des Musikuniversums zusammengefügt. Weit voneinander entfernt sind die Instrumentalisten auf drei Podesten an den Seiten der Halle stationiert. Ein Streichquartett und zwei Bands. Dirigent Titus Engel koordiniert dieses Klangabenteuer von der Mitte des Saales aus, in dem die Zuschauer auf Drehschemeln verteilt sind. (Regie: Anika Rutkofsky). Die weiblichen Protagonisten wandern auch wörtlich durch den Raum der Assoziationen, vor und in den holografischen Bildprojektionen, die Thomas Stammer aus Kohlezeichnungen von Albert Oehlen kreiert hat. Burgschauspielerin Sylvie Rohrer liefert in rotem Kleid wenn überhaupt als Conferencière so etwas wie einen roten Faden. Viel Kunst, wenig Inhalt, starke Wirkung. Ein Abend, der zwar keinen erkennbaren direkten Bezug zur Lebenswelt hat, zu deren Zersplitterung in Elemente eines Albtraums oder auch einer Utopie aber schon.
Allein, was Barbara Frey selbst inszeniert und das, was sie beim Musiktheater ermöglicht hat, ist allemal festspielgemäß und verleiht diesem Jahrgang ein starkes Profil.
Schlagwörter: "Die Grube und das Pendel", Barbara Frey, James Joyce, Joachim Lange, Michael Wertmüller, Musiktheater, Olga Neuwirth, Ruhr Triennale