Der Sachverständige ist nach offizieller Lesart eine mater dolorosa: rosenumkränzt und rein. Die Volksseele wird durch Politik, Industrie und Werbung angehaltefn, ihn ikonenhaft als einen ehrlichen und lauteren Menschen zu sehen, der sich nie irrt und auf Grund seines Fachwissens unvoreingenommen und selbstlos urteilt. Der Stoff, aus dem dieses Märchen gemacht wurde, ist aber seit dem Fall Dreyfus längst zerschlissen.
Durch Alphonse Bertillon (1853–1914), der nach dem Erfolg seiner anthropometrischen Messungen („Bertillonage“) mit der Aura der Unfehlbarkeit umgeben war, artete ein zunächst harmloser Fall zu einem Skandal aus, der ganz Frankreich erschütterte und die Nation in zwei Lager teilte. In der Spionageaffäre um den jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus (1859–1935), der 1894 unschuldig zu lebenslanger Deportation verurteilt wurde, ging der Prozess im Verständnis der Ankläger nicht voran, weil sich die Gutachter ausgesprochen störrisch verhielten. So wurde ein Bordereau, ein Begleitschreiben, das Dreyfus sehr belasten sollte, von dem Schriftsachverständigen Alfred Gobert beurteilt. Gobert verglich die Handschrift auf dem Beweisstück mit der Schriftprobe des Angeklagten und kam zu dem Ergebnis: Dreyfus war nicht der Urheber des verräterischen Schriftstückes! Die Anklage zog großen Bertillon hinzu. Obwohl er sich nur am Rande mit der Schriftvergleichung beschäftigt hatte, wagte er sich an den schwierigen Auftrag, und er schloss das Loch in der Festungsmauer der Anklage, denn für ihn war Dreyfus ohne Zweifel der Verfasser des Bordereaus! Seine Methode galt schon damals als verpönt: Er stellte die Deckungsgleichheit von Buchstaben her. Die Militärrichter glaubten dem im Sinne der Anklage formulierten Gefälligkeitsgutachten Bertillons. Das Ziel war endlich erreicht: Dreyfus wurde 1894 wegen angeblichen Verrats militärischer Geheimnisse an Deutschland zu lebenslanger Deportation auf die Teufelsinsel verurteilt. Obwohl der wirkliche Schuldige, Major Marie Charles Esterházy, bereits 1896 ermittelt worden war, wurde Dreyfus erst 1899 begnadigt und musste gegen alle Widerstände der Militärs letztlich doch am 12. Juli 1906 freigesprochen werden.
Mit einem offenen Brief an der Präsidenten der Republik („J’Accuse …!“ – „Ich klage an …!“, am 13. Januar 1898 veröffentlicht auf dem Titelblatt der Zeitung L’Aurore) setzte sich der Romancier Émile Zola leidenschaftlich für die Freilassung von Dreyfus ein.
Als das französische Innenministerium im Januar 1914 Bertillon wegen seiner unbestreitbaren Verdienste um die Kriminalistik mit der Rosette zum Band der Ehrenlegion auszeichnen wollte, knüpfte es daran die Bedingung, dass er seinen Irrtum im Dreyfus-Fall eingestehen sollte. Aber der erblindete Bertillon, bereits lebensgefährlich erkrankt, wies dieses Ansinnen starrköpfig zurück.
Hinter der „Bertillonage“ verbarg sich ein geschickt ausgeklügeltes System, durch anthropometrische Messungen die Identifizierung von Kriminellen zu ermöglichen. Vermessen wurde fast alles: Die Körpergröße, die Entfernung des Ellbogens zur Fingerspitze, die Jochbeinbreite, die Länge und Breite des Kopfes usw. usf. Der Erfinder Bertillon avancierte 1880 zum Chef des Identifizierungsamtes an der Polizeipräfektur von Paris, und von dort aus eilte sein Ruhm um die ganze Welt. Die Fahndungserfolge mehrten sich. Insbesondere den international agierenden Taschendieben ging es an den Kragen, da ihnen eine Namensänderung nichts mehr nützte. Ausziehen, vermessen, identifizieren – und schon waren sie überführt!
Bertillons Stern sank recht schnell. Das schwerfällige System mit den umständlichen Körpermessdaten erhielt um die vorletzte Jahrhundertwende eine starke Konkurrenz. Das neue Zauberwort hieß Daktyloskopie. Im Abendland entdeckte man neu, was im alten China seit dem 7. Jahrhundert bekannt war. Dass sich nämlich an der Innenseite der Fingerspitzen (und nicht nur dort!) Systeme von Haut- oder Papillarlinien befinden, Wälle und Furchen sozusagen, die charakteristische Muster werfen, die bei jedem Menschen ein Leben lang unverändert bleiben. Das war eine neue Chance, die Ganoven sicherer, billiger und schneller als mit Bertillons ausschweifendem Messverfahren zu identifizieren.
Seit 1897 wurde im Deutschen Reich die Anthropometrie (ein anderer Name für die „Bertillonage“) einheitlich angewendet, aber nur vier Jahre später kamen erstzunehmende Signale aus London, die das Verfahren schon wieder in Frage stellten. 1901 ging die Londoner Polizei dazu über, die Daktyloskopie flächendeckend einzusetzen. Auch in Deutschland gab es glühende Verfechter der englischen Neuheit.
Bertillon, der der Daktyloskopie skeptisch gegenüberstand, konnte sich dem Strom der Zeit nicht entziehen. Er ergänzte zunächst die Körpermessblätter mit Fingerabdrücken, bezog sie aber in seine Systematisierung nicht ein, was sich später als folgenschwerer Fehler herausstellte. Schon im Vorfeld der Polizeikonferenz der deutschen Bundesstaaten im Dezember 1912 in Berlin zeichnete sich ab, dass sie der Daktyloskopie ohne Wenn und Aber den Vorrang geben würde. So kam es auch, aber nicht ohne Zugeständnis an Bertillon: Die Körpermessung sollte bei „internationalen Verbrechern“ weiter verwendet werden.
Nach dem Tode Bertillons 1914 wurde dem einst so revolutionären Körpermessverfahren ein schnelles, schmerzloses Ende bereitet. Auf dem I. Kongress für internationales Polizeiwesen im April 1914 in Monaco schlug zwar Bertillons langjähriger Mitarbeiter und Nachfolger Ph. David den Kompromiss vor, die Körpermesskarten nach der daktyloskopischen Methode zu klassifizieren, doch die Gegenargumente waren schlagend. Robert Heindl, der 1904 in Sachsen die erste deutsche daktyloskopische Landeszentralstelle aufgebaut hatte, führte imposante Zahlen an: 1913 wurden in den Königreichen Sachsen, Bayern und Württemberg 3351 Personen daktyloskopiert, aber nur drei daktyloskopiert und gemessen!
Hatte er im Fall Dreyfus schon völlig versagt, lieferte Bertillon selbst ein weiteres Argument gegen sein Lebenswerk, was allerdings erst Ende 1913 ruchbar wurde.
Am 21. August 1911 war aus dem Salon Carré des Louvre die „Mona Lisa“ von Leonardo da Vinci gestohlen worden. Bei der Besichtigung des Tatortes fand Bertillon, der mit dem Chef der Pariser Sûreté zum Tatort gerufen wurde, an dem im Treppenhaus abgestellten Renaissancerahmen, genauer auf dem Schutzglas, den Abdruck eines linken Daumens, den er persönlich sicherte. Da er aber die Daktyloskopie, wie Heindl einmal schrieb, „nur unvollständig, bis zur Unkenntlichkeit umgemodelt, zerhackt und verstümmelt, in sein System übernommen“ hatte, endete diese hoffnungsvolle Spur im Nichts. Später wurde der Täter Vincenzo Perrugia leichtsinnig. Er bot das Bild einem Kunsthändler aus Florenz zum Kauf an und ging am 11. Dezember 1913 in die polizeiliche Falle.
Nach seiner Verhaftung wurden alle Umstände dieses sensationellen Kunstraubes erhellt. Der Bilderdieb hatte 1911 als Anstreicher im Louvre gearbeitet und war nach dem Verschwinden der „Mona Lisa“ auch lasch befragt worden. Dass Perrugia 1909 von der Pariser Polizei anlässlich eines Raubes bereits daktyloskopiert worden war, überprüfte niemand …
Schlagwörter: Bertillon, Daktyloskopie, Frank-Rainer Schurich, Sachverständige