24. Jahrgang | Nummer 18 | 30. August 2021

Deutsche Wohnen & Co. enteignen: Wie die linke Inquisition eine Bewegung zerstört

von Rainer Balcerowiak

Es klingt wie eine Geschichte aus dem linken Märchenbuch. Der Legende nach entstand die Idee zu einem Volksbegehren für die Enteignung großer Wohnungskonzerne irgendwann im Winter 2017/18 an einem Kreuzberger Kneipentisch, als sich zwei altgediente Kämpen der linken Berliner Szene beim Bier überlegten, was für ein großes Ding man gegen Wohnungsnot und Mietwucher machen könnte. Denn dies ist seit Jahren eines der beherrschenden Themen der Berliner Politik. Es folgten unzählige Treffen in kleinen und stetig größer werdenden Gruppen und bald stieg auch die „Interventionistische Linke“ (IL), die bereits Erfahrungen bei der Vernetzung von Deutsche-Wohnen-Mietern gesammelt hatte, in die geplante Kampagne ein. Und das sollte gravierende Folgen haben.

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Doch der Reihe nach. Die Initiative „Deutsche Wohnen&Co enteignen“ (DWE) startete nach einigen Verzögerungen im April 2019 die 1. Stufe des gleichnamigen Volksbegehrens. Die für einen Erfolg notwendigen 20.000 gültigen Unterschriften wurden bereits nach wenigen Wochen weit übertroffen. DWE hatte den Nerv der Stadt getroffen, und allmählich begann auch die offizielle Politik, die Sache ernst zu nehmen. Bald bildeten sich eindeutige Lager in der Stadt. Die LINKE unterstützte die Initiative, die Grünen mochten eine Enteignung als „letztes Mittel“ nicht ausschließen, die SPD, deren früherer Landeschef und Regierender Bürgermeister Michael Müller zunächst eine ähnliche Haltung angenommen hatte, legte sich schließlich auf Ablehnung fest und CDU, FDP und AfD waren sowieso dagegen. Daran hat sich bis heute wenig geändert.

Mietendeckel contra Volksbegehren

Nach der erfolgreichen 1. Stufe lag das Volksbegehren für lange Zeit auf Eis. Denn die von Andreas Geisel (SPD) geführte Senatsinnenverwaltung ließ sich bei der Prüfung des Anliegens der Initiative sehr viel Zeit, eine gesetzliche Frist für die Zulassung zur 2. Stufe, nach deren erfolgreicher Bewältigung ein Volksentscheid durchgeführt werden muss, gibt es nicht. Zudem wurde die mieten- und wohnungspolitische Auseinandersetzung in der Stadt mittlerweile von einem anderen Thema geprägt. Die SPD „entdeckte“ einen längeren Aufsatz des auf Mietrecht spezialisierten Anwalts Peter Weber, der im November 2018 in einer juristischen Fachzeitschrift erschienen war. Unter dem Titel „Mittel und Wege landeseigenen Mietpreisrechts in angespannten Wohnungsmärkten“ skizzierte Weber die Möglichkeiten eines durchgreifenden Mietendeckels auf Landesebene mit strikten Mietobergrenzen nicht nur für Neuvermietungen, sondern auch für Bestandsverträge. Nach langem Gezerre innerhalb der „rot-rot-grünen“ Koalition wurde der Mietendeckel schließlich im Januar 2020 verabschiedet. Und die SPD war sich jetzt ziemlich sicher, dass durch den Mietendeckel die Luft aus der verhassten Enteignungskampagne raus ist.

Im September 2020 gab Innensenator Geisel schließlich grünes Licht für die 2. Stufe des Volksbegehrens. Die Unterschriftensammlung begann am 26. Februar 2021. Nunmehr galt es, binnen vier Monaten, also bis zum 25. Juni, 177.000 gültige Unterschriften zu sammeln, um einen Volksentscheid parallel zur Wahl des Abgeordnetenhauses am 26. September zu erzwingen.

Turbo für die Forderung nach Enteignung

Nach einem furiosen Start verlief die Sammlung zunächst eher schleppend. Es mehrten sich Befürchtungen, dass das gesteckte Ziel möglicherweise nicht erreicht werden würde. Doch am 16. April sorgte das Bundesverfassungsgericht für einen gewaltigen neuen Schub, denn der Berliner Mietendeckel wurde von den Karlsruher Richtern komplett für null und nichtig erklärt. Die Kampagne wuchs auf über 1000 aktive Unterstützer in den Kiezteams, neben der Linkspartei unterstützten auch Mieterinitiativen, Verbände und Gewerkschaften die Sammlung – die nach dem Kippen des Mietendeckels auch auf viel mehr Resonanz in der Bevölkerung stieß. Mit Michael Prütz, einem der beiden „Gründerväter“, hatte die Kampagne zudem ein mediales Gesicht, er avancierte zum regelmäßigen Gast bei Talkshows und zum gefragten Interviewpartner auch „großer“ Medien.

Ende Mai war bereits absehbar, dass die 177.000 Unterschriften erreicht werden, am Ende waren es über 300.000. Dem Volksentscheid steht nichts mehr im Weg, am 26. September können die Berliner, parallel zu den Bundestagswahlen und den Wahlen für das Berliner Abgeordnetenhaus, über die Forderung, große private Wohnungskonzerne zu vergesellschaften, abstimmen. Und die Chancen für einen Erfolg stehen eigentlich gar nicht mal schlecht, denn Mietenexplosion und Wohnungsnot sind nach wie vor beherrschende Themen in der Stadt.

Bis dahin also eine der wenigen großen linken Erfolgsstories. Ausgerechnet in der lange Zeit von tumbem Antikommunismus geprägten Stadt Berlin gab es nunmehr massenhafte Unterstützung für „sozialistisches Teufelszeug“ wie Enteignungen und Vergesellschaftungen. Bestehende Eigentumsverhältnisse werden von großen Teilen der Bevölkerung nicht mehr als unveränderlich oder gar „gerecht“ empfunden. Und das weit in die Klientele von SPD, CDU und auch der AfD hinein.

Intern hatte derweil die „Interventionistische Linke“ – eine gut organisierte Kadertruppe – die Kampagne weitgehend unter Kontrolle gebracht, organisatorisch und inhaltlich. Und es war ein offenes Geheimnis, dass es zwischen der IL und Prütz immer wieder Differenzen über das weitere Vorgehen gab. Auch im zum IL-Umfeld gehörenden „radikalfeministischen Flügel“ der Kampagne stand der „alte, weiße cis-Mann“ und medial omnipräsente „Macker“ Prütz schon länger auf der Abschussliste.

Die „Definitionsmacht“ der neuen Jakobiner

Was dann passierte, klingt wie ein Drehbuch, dessen Autor aber bislang noch niemand kennt. Ende Juni behauptete eine Aktivistin der Kampagne, ebenfalls aus dem IL-Umfeld, Prütz habe sie bei einer öffentlichen Veranstaltung der Kampagne am 21. Juni auf dem Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin-Mitte sexuell belästigt. Obwohl dieser den Vorwurf vehement bestreitet und als „frei erfunden“ bezeichnet, wurde die Anschuldigung seitens des Leitungsgremiums der Kampagne als wahr und unhinterfragbar eingestuft. Prütz wurde ohne jegliche Anhörung und Erörterung aus der Kampagne ausgeschlossen, seine Zugänge zur internen Kommunikation wurden gekappt, für Veranstaltungen der Kampagne erhielt er eine Art Hausverbot. Ferner wurde er aufgefordert, absolutes Stillschweigen zu bewahren und bei Nachfragen einen „Burnout“ als Grund für seinen Rückzug anzugeben. Kritiker dieses Vorgehens wurden massiv als „Täterschützer*innen“ diffamiert, das Büroteam Hals über Kopf aufgelöst. Prütz hat inzwischen über seinen Anwalt Klagen wegen Verleumdung und Falschanzeige eingereicht und behält sich Schadenersatzforderungen vor.

Hintergrund ist das besonders von der IL vertretene Definitionsmachtkonzept (DefMa), das in Teilen der autonomen und radikalfeministischen Linken schon länger zum konstitutiven Selbstverständnis gehört. Demnach müssen behauptete sexuelle Übergriffe auch ohne jegliche Verifizierung als unhinterfragbare Tatsache eingestuft werden. Der vermeintliche Täter wird umgehend – also ohne Anhörung und Untersuchung des behaupteten Vorfalls – aus den jeweiligen Zusammenhängen entfernt. Das in den USA entwickelte Konzept bezog sich ursprünglich nur auf sexuelle Übergriffe. Doch längst wird es gerade in Deutschland auch auf vermeintliche rassistische Diskriminierungen angewandt. Es ist eng verwoben mit bestimmten Auswüchsen der Cancel Culture, die etwa weißen Menschen das Recht abspricht, über Rassismus zu reden, oder das Tragen ethnisch konnotierter Kleidungsstücke und Frisuren wie etwa Dreadlocks als „Kulturelle Aneignung“ brandmarkt. Und es korrespondiert mit der totalen Dekonstruktion geschlechtlicher und sexueller Identitäten.

Das Problem: Das ist längst kein Spleen mehr, den durchgeknallte linke Sekten exklusiv haben: DefMa und verwandte Konstrukte sind in jüngeren, akademischen Milieus inzwischen teilweise hegemonial, sie fressen sich von den sozial- und geisteswissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten durch die Jugendorganisationen der „linken“ Parteien, durch NGOs, Stiftungen, Gewerkschaften, Verbände und Initiativen.

Anschuldigung reicht – Urteil wird gleich mitgeliefert

Am Beispiel der Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ wird das auf schrille Weise deutlich. Denn das von der IL und ihren Unterstützern dominierte Leitungsgremium, der sogenannte Ko-Kreis, erklärte die eingeschlagene Vorgehensweise für quasi unverrückbar verbindlich – und ließ sich diese Haltung vom digitalen „Aktivenplenum“ der Kampagne, an dem zweiwöchentlich 150 bis 200 Menschen teilnehmen, mehrfach absegnen. Zuletzt am Dienstag [17. August 2021 –  d. Red.], als Änderungsanträge zu einem entsprechenden Grundsatzpapier mit Mehrheiten zwischen 66 und 78 Prozent abgeschmettert wurden.

Nunmehr gilt für die Kampagne, die in ihren Hochzeiten weit über 1000 aktive Unterstützer aus verschiedenen politischen und sozialen Milieus mobilisieren konnte, offiziell: Rechtsstaatliche Mindeststandards wie Unschuldsvermutung oder ein faires, ergebnisoffenes Anhörungs- und Untersuchungsverfahren haben hier keine Gültigkeit, denn, so ein Chat-Beitrag auf einem Plenum: „Wir handeln nicht rechtsstaatlich, sondern moralisch.“ Es reicht eine Anschuldigung, die durch nichts substanziiert ist und dennoch postwendend zu einem Schuldspruch und zu einem Ausschluss führt – mit weitreichenden Konsequenzen für den Beschuldigten und sein Umfeld.

Das erinnert dann allerdings eher an die spanische Inquisition, das späte Jakobinertum nach der französischen Revolution und Schauprozesse in der Stalin-Ära als an die Verfasstheit von großen, demokratischen Bündnissen. Für Denunziationen und Intrigen aller Art wird ein riesiges Scheunentor geöffnet, es kann jeden treffen, der sich in solchen Zusammenhängen bewegt. Und nicht wenige Menschen haben dies in den vergangenen Jahren bereits leidvoll erfahren müssen.

Kritiker haben keine Chance

Natürlich kursieren bei DWE intern auch Papiere, in denen das DefMa-Konzept und der Umgang mit dem Beschuldigten deutlich kritisiert werden. Ganz zu schweigen von den vielen „einfachen“ Unterstützern in den Stadtteilen, die vor Ort die Kärrnerarbeit machen, aber in akademisch geprägten Debatten um „Awareness“, „transformative Prozesse“ und radikalfeministische Konzepte keinen Platz finden und keine Stimme haben – und allmählich das Weite suchen. Aber die Strippenzieher wollen ihren Kurs unbedingt durchhalten und die Konflikte möglichst auf die Zeit nach dem Volksentscheid vertagen. Was glücklicherweise gründlich misslungen ist.

Höchste Zeit also, bei den großen Bündnispartnern der Kampagne nachzufragen.

Können Vertreter von vordemokratischen, diametral gegen rechtsstaatliche Grundprinzipien gerichteten ideologischen Konstrukten Bestandteil breiter Bündniskampagnen sein?

Wäre es nicht an der Zeit, dem System von Anschuldigung und automatischer Verurteilung ohne Anhörung und Untersuchung grundsätzlich den Kampf anzusagen und als unvereinbar mit demokratischen Prinzipien zu kennzeichnen?

Funkstille bei Linken und Gewerkschaften

Von Seiten der Partei Die LINKE gibt es nur beredtes Schweigen auf entsprechende Anfragen. Man fürchtet Turbulenzen in der Kampagne, da diese in Berlin der einzige zugkräftige Wahlkampfschlager der Partei ist. Zudem dürften nicht wenige aktive Mitglieder aus den einschlägigen Milieus DefMa und ähnlichem inquisitorischen Irrsinn mit Sympathie begegnen.

Auch von ver.di und der IG Metall gibt es keine Antwort. Immerhin hat aber eine Vertreterin des IG-Metall-Ortsvorstands innerhalb der Kampagne unmissverständlich gefordert, dass man grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien akzeptiert, da dies die Voraussetzung für ein derartiges Bündnis wäre. Was natürlich ungehört verhallte.

Geäußert hat sich allerdings Rainer Wild, der Geschäftsführer des Berliner Mietervereins (180.000 Mitglieder), und das in gebotener Deutlichkeit. „Aus Sicht des Mietervereins ist selbstverständlich, dass es bei einem Vorwurf einer Straftat nicht an uns ist, dies zu bewerten. Dafür gibt es die rechtsstaatlichen Verfahren. Insoweit gilt die Unschuldsvermutung. Dazu kann es auch keine Alternative in einer politischen Initiative geben (…) Für den Beschuldigten gilt die Unschuldsvermutung, bis der Vorfall von den zuständigen Strafverfolgungsbehörden aufgeklärt ist.“ Offizielle Konsequenzen hat der Mieterverein aber bislang nicht gezogen.

Höchste Zeit für einen Bruch

Nachdem sich die DWE-Kampagne endgültig in die Hand von vormodernen Inquisitoren begeben hat und auf der Basis institutionalisierter Willkür agiert, wäre es jedenfalls höchste Zeit für einen konsequenten Bruch. Für die Mieterbewegung in Berlin und darüber hinaus ist das ein herber Schlag, denn die Kampagne war in Berlin und weit darüber hinaus zum Fixpunkt für Bestrebungen geworden, der Macht der großen Wohnungskonzerne und ihrem verheerenden Treiben auf dem Wohnungsmarkt, das für viele Menschen eine existenzielle Bedrohung darstellt, etwas entgegenzusetzen. Doch das „große Ziel“ kann kein Vorwand sein, politischen Marodeuren freie Bahn zu gewähren, die ihre antidemokratische und antihumanistische Grundhaltung breiten Bündnisbewegungen überstülpen wollen. Ab jetzt sollte gelten: Unterstützung der Forderung nach Enteignung großer Wohnungskonzerne, aber keine Unterstützung oder gar Zusammenarbeit mit der institutionalisierten Kampagne „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ mehr. Sie ist mittlerweile zu einem gefährlichen Gegner aller demokratischen Bewegungen und Prozesse geworden. Und sollte auch so behandelt werden. Der Kampf gegen diese zutiefst reaktionären Strömungen muss jetzt geführt werden. Sie haben in linken, demokratischen und emanzipatorischen Bewegungen nichts zu suchen und könnten zu deren Totengräbern werden, wenn ihnen nicht endlich Einhalt geboten wird.

Das Schlusswort gehört natürlich dem Opfer dieses Treibens: In einer vor wenigen Tagen veröffentlichten Erklärung wirft Michael Prütz der von ihm maßgeblich initiierten und repräsentierten Kampagne vor, sie falle „weit hinter die Werte und Normen der bürgerlichen Aufklärung zurück und landet im 15. Jahrhundert, wo Fürsten, Adlige und Gutsherren über Recht und Gesetz befunden haben. […] Zu gegebener Zeit muss und wird die Öffentlichkeit, die sozialen Bewegungen und die Gewerkschaften über euer sektenhaftes und dschihadistisches Verhalten zu informieren sein.“

Rainer Balcerowiak lebt und arbeitet als freier Journalist und Buchautor. Er veröffentlicht regelmäßig unter anderem in Neues Deutschland und cicero und ist Redakteur beim Berliner MieterEcho.

NachDenkSeiten, 20. August 2021. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors.