Es ist unmöglich, die innere Triebfeder eines Romans zu erfassen, wenn man ihn in 90 oder 100 Minuten packt, meint Regisseur Dominik Graf. Darum dauert seine Adaption von Erich Kästners etwa 200 Seiten starkem Roman „Der Gang vor die Hunde“ (bekannt als „Fabian“) fast drei Stunden. Das ist angemessen, wenn Graf auch einige Längen nicht vermied. Erich Kästner war sehr hellsichtig, was die Fahrt betraf, die die Weimarer Republik, in der er den Roman schrieb, aufnehmen sollte. In der Weltbühne 43/1931 veröffentlichte er das im Buch nicht enthaltene Nachwort zum Roman. Darin schrieb er, dass er Angriffe befürchte. Der Autor, also Kästner, „sieht eine einzige Hoffnung, und die nennt er. Er sieht, daß die Zeitgenossen, störrisch wie die Esel, rückwärts laufen, einem klaffenden Abgrund entgegen, in dem Platz für sämtliche Völker Europas ist. Und so ruft er, wie eine Reihe Andrer vor ihm und außer ihm: Achtung! Beim Absturz linke Hand am linken Griff!“
Sein Dr. phil. Fabian ähnelt dem Autor in mancherlei Hinsicht – bis hin zum Dresdner Elternhaus. Kästner schildert die Disparität der „Goldenen Zwanziger Jahre“ aus Sicht von Künstlern und Intellektuellen in Berlin. Dabei wurde er gebremst. Das gedruckte Manuskript wurde gekürzt, auch um einige Stellen, die das allzu lockere Sexualleben zeigten. „Dieses Buch ist nichts für Konfirmanden, ganz gleich wie alt sie sind. Der Autor weist wiederholt auf die anatomische Verschiedenheit der Geschlechter hin. Er läßt in verschiedenen Kapiteln völlig unbekleidete Damen und andre Frauen herumlaufen. Er deutet wiederholt jenen Vorgang an, den man temperamentloserweise Beischlaf nennt. Er trägt nicht einmal Bedenken, abnorme Spielarten des Geschlechtslebens zu erwähnen. Er unterläßt nichts, was die Sittenrichter zu der Bemerkung veranlassen könnte: Dieser Mensch ist ein Schweinigel. Der Autor erwidert hierauf: Ich bin ein Moralist!“
Vieles davon, was Kästner hier andeutet, hat Dominik Graf in seine Filmadaption übernommen. Die Atmosphäre der Zwanziger Jahre erscheint nicht nur in einem losen Sexualleben. Auch die politische Komponente mit den immer frecher werdenden Nazis ist enthalten. Doch manches ist auch verwaschen. Dass Fabians Freund Labude trotz seiner Herkunft ein Kommunist sei, wird nur behauptet. Ihn spielt Albrecht Schuch intensiv, fast irrlichternd. Man ist versucht zu fragen, wie es gewesen wäre, wenn er den Fabian gespielt hätte. Den spielt Tom Schilling auf bewährte Weise als sensiblen (noch immer) jungen Mann allzu zurückhaltend. Die Schärfe des Schriftstellers (der sich als Werbetexter verdingen muss) lässt er ebenso vermissen wie die mitzudenkenden Erfahrungen, die ihn im Krieg geprägt haben. Seine Freundin Cornelia Battenberg hat im Film größeren Raum als im Roman, aber Saskia Rosendahl scheint in manchen Szenen überfordert. In der kleineren Rolle der Frau Moll brilliert Meret Becker auf die ihr eigene Weise.
Kästners Dialoge wurden übernommen, aber teilweise unglücklich überarbeitet. Erst in der intimsten Situation fragt Fabian Cornelia: „Wie heißt du eigentlich?“ Kästner hat dem Satz das charmante Wort „Pardon“ vorangestellt. Das ist gestrichen. Zum geflügelten Wort wurde der Satz „Schön haben sie´s hier, die kleinen Idioten!“ Der Münchner Graf macht aus den „Idioten“ „Deppen“. Was ist da gewonnen?
Trotz einiger Einschränkungen ist Dominik Graf eine anregende, zutreffende Kästner-Adaption gelungen, die in die Gegenwart verweist. Am Beginn tauchen wir ausgehend vom heutigen Berlin in die Zwanzigerjahre ein, und an anderer Stelle nimmt die Kamera von Hanno Lentz die ins Pflaster eingelassenen „Stolpersteine“ zur Erinnerung an Berliner Juden in den Blick. Das hat stille Größe.
Die Schreibweisen des Originals wurden beibehalten.
Schlagwörter: Dominik Graf, Erich Kästner, F.-B. Habel, Film