24. Jahrgang | Nummer 15 | 19. Juli 2021

Zu doof für Baseball?

von Klaus Joachim Herrmann

Bücher über Baseball sind hierzulande weder Massenerscheinung noch Bestseller. Der „Baseballero“ Georg Bull wagt es aber erneut. Eine frühere Publikation mit Ko-Autor Sven Huhnholz aus dem Jahre 2006 war immerhin schon länger nicht mehr zu bekommen. „Baseball. My life…not just a hobby“ ist mit Maximen und Weisheiten gewürzt, mit fünf Jahrzehnten Erfahrung und Erfolgen als langjähriger Nationalspieler, als Trainer mit zahlreichen Titeln im Nachwuchsbereich, mit einer Menge bunten Lebens in diesem Sport und drumherum. Dieser Sport habe sein Leben geprägt, sei ihm nicht einfach Hobby – er ist dem Mitbegründer und Leiter der Deutschen Baseball Akademie in Paderborn unzweifelhaft Mission. Leidenschaftlich setzt er auf Erfolg: „Weil es einfach ein tolles Gefühl ist, erfolgreich zu sein.“ Und was einem in den Schoß falle, mache nicht glücklich. Das ist nicht unumstritten. Nicht zufällig bekräftigt Bull, er sei von „alter Schule“. Baseball biete Analogien und Parabeln für fast jede Lebens-, Geschäfts-, politische oder soziale Situation und Entscheidung, meint der 57-Jährige.

Eine übliche Reaktion auf das Thema Baseball lautet, „verstehe ich nicht, ist langweilig“. Das hierzulande weithin bekannteste Gerät dieser Sportart ist der Schläger. Holz oder Aluminium – er genießt nicht den besten Ruf. In Zeiten von Großereignissen wie einer Fußball-Weltmeisterschaft waren Baseballschläger schon mal aus den wenigen einschlägigen Geschäften genommen – als gefährliches Gut. In Deutschland bleibt der Sport trotz einer 1. Bundes- und weiteren Ligen am Rande, liegt laut der Sportschau mit gut 22.000 Vereinsmitgliedern gerade noch etwas vor Boule, Boccia und Pétanque. „Volkssport in den USA, Randsportart in Deutschland“, wundert sich Autor Markus Kramer und folgert: „Baseball ist nicht zuletzt wegen seiner hohen Komplexität hierzulande deutlich weniger beliebt als in den Staaten.“

Sind die Deutschen etwa zu doof für Baseball? Kaum. Sie schlugen sich bei Europameisterschaften und auch im Nachwuchsbereich mit mehreren Titeln erfolgreich. Aber Substanz und Spannung stecken tiefer, sie wollen entdeckt und erschlossen werden. In einem normalen Spiel sei der Ball sieben bis zehn Minuten wirklich unterwegs, doch befänden sich die Spieler zwei bis drei Stunden „auf der Lauer, auf der Jagd“, sagt Georg Bull. Mag sein, dass den Amerikanern von manchen Skeptikern und vor allem Freunden des Fußballs solch anspruchsvolles Spiel einfach nicht zugetraut wird. Die New York Times ihrerseits wird allerdings gern zitiert mit ihrem Hinweis, dass Eltern ihre Kinder solange Fußball spielen ließen bis sie alt genug für etwas Interessanteres seien. Nicht aus Langeweile ist Baseball Massen- und Spitzensport besonders in Nord- und Lateinamerika, in Ostasien. In Tokio ist Baseball wie auch seine eher von Frauen dominierte Variante Softball in diesem Sommer sogar wieder olympisch.

Gut gekleidete jüngere oder auch schon deutlich ältere Jungs bis ins solide Mannesalter und von jeder Statur nehmen nach einem festen Schema Aufstellung. Die langen Hosen mit Gürtel sind nicht selten – wenigstens zu Spielbeginn – leuchtend weiß, ordentlich steckt das Trikot drin. Wirft ein Akteur von einem Hügel den steinharten Ball in etwa Tennisgröße, schlägt ihn ein anderer, vorausgesetzt er trifft, ins Spiel. Angreifer versuchen im Sprint oder mit List die kleinen viereckigen Bases zu besetzen. Ist der Ball vor ihnen da, sind sie raus. Kommen sie „Home“, nach Hause ins Ziel, gibts einen Run, also einen Punkt. Ungefähr so und anscheinend recht einfach.

Aus der Ferne betrachtet mag Baseball rätselhaft erscheinen, dafür sorgt auch ein umfangreiches Regelwerk. Kenner loben den Sport als komplex und faszinierend. Kundige Trainer betreiben schon die Aufstellung ihrer Mannschaft wie Schachmeister. Sie rechnen mindestens fünf, sicher aber mehr Züge im Voraus. Wer wirft wie, wer schlägt an welcher Position, wer steht wo in der Abwehr? Das kann entscheiden über Sieg oder Niederlage. Dabei trifft niemand am Schlag jeden Ball – vielleicht jeden dritten, wenn es gut geht. Baseball mache bescheiden, denn „jeder sieht immer, was du gemacht hast“, sagt Georg Bull. „Es ist das Spiel des Versagens und wieder Aufstehens, das Spiel von Furcht und Arroganz, der geschmeidigen Aggression, man erlebt die mentale Action im Duell, das einzigartige Konzept von Einzelsport im Mannschaftsverbund.“

Baseball ist vielerlei Sport. Wer ihn erfolgreich ausübt, hätte auch Chancen in Wurfdisziplinen, Hand- oder Basketball, als Sprinter, manche im Eishockey oder auch als Torwart im Fußball. Wie Max Kepler. Der deutsche Superstar aus Berlin in der US-amerikanischen Major League Baseball (MLB) stand einst bei der Jugend von Hertha BSC im Tor. Jetzt hat er einen Millionenvertrag bei den Minnesota Twins, schlägt dort Homeruns und kam unlängst zur Werbetour für seinen Sport in die alte Heimat. Nicht wenige junge Fans haben jetzt ein Autogramm auf einem Ball oder gleich auf dem eigenen Trikot. Wie sie selbst zu Stars werden könnten? Der Autor richtet sich ausdrücklich „an den ehrgeizigen Spieler“, aber auch jeden, der interessiert ist. Zwei Bücher in einem legt er vor. Die kann der Leser nach Geschmack sortieren – nach meinem hätte die Biographie nach vorn gehört. Erst das Leben, dann die Lehre.

Doch erst habe er ein reines Lehrbuch schreiben wollen, argumentiert der Autor, dann seine Lebensgeschichte. Die sportliche begann für den Erstklässler auf einer Wiese Neuostheims, einem Mannheimer Vorort. Im Südwesten Deutschlands lebten in den 1970er Jahren mehr als eine Million US-Amerikaner, 300.000 Soldaten, zivile Beschäftigte, Familien. Die Luftwaffenbasis Ramstein ist nur eine Autostunde entfernt. Baseball war hier Thema und verbreitetes Spiel, beileibe keine Randerscheinung. Der amerikanische Nationalsport strahlte aus und bot einem ehrgeizigen Anfänger Liga und spannende Perspektive. Die hielt solche Stationen wie die USA, Südafrika, die Dominikanische Republik und sogar Strausberg bei Berlin bereit. Letztere beiden mit Trainingsstätten der DBA für Talente und künftige Spitzensportler.

Im Osten ist die Streuung von Klubs und Plätzen bis heute weit gröber, sind Experten nicht so reich gesät. Ja, wäre Baseball ein Sowjetsport gewesen… Mit den Flamingos stellt Berlin die einzige Mannschaft der 1. Bundesliga Nord aus dem Osten. In der 2. Bundesliga Nord-Nordost spielen noch die Berlin Sluggers, während die Roadrunners aus Weißensee für sich als den einzigen Base- und Softballverein im Osten Berlins werben. In der Hauptstadt gibt es zur Überwindung manchen Defizits internationale Zusammenarbeit. Deutsche arbeiten zusammen mit Trainern aus Lateinamerika, Coaches aus den USA mit Kubanern. Hat auch das offizielle Washington mörderisch das Knie im kubanischen Nacken, gibt es im Sport zwischen den Akteuren Fairness und Gemeinsamkeit. Ohne bis zur Selbstaufgabe engagierte ehrenamtliche Trainer, Schiedsrichter oder Scorer, die die ausgefeilte Statistik sichern, ohne die Mitwirkung der Eltern junger Spieler – zuweilen aus binationalen Familien mit Baseball-Hintergrund – beim Hinbringen, Abholen oder dem Catering, den Platzwart und so viele andere Mitwirkende wären Erfolge undenkbar.

Natürlich muss man auch als Zuschauer ein erstes Mal hinfinden. Mein Baseball beginnt auf Kuba in Pinar del Rio mit einer halben Nacht im vollen Stadion. Das Spiel gegen Havanna Industriales ist für den Abend angesetzt, dann ist es nicht mehr ganz so heiß. Ein Volksfest, ein Treffen von Familien, Freunden und Bekannten, ewige Diskussion um Spieler und Gespieltes. Auf der Tribüne eine kaum ein Dutzend Musiker starke bunte Truppe mit großer Ausdauer und noch mehr Rhythmus. Viele Bläser, manches Schlagwerk. Plötzlich eine getragene Melodie. Vom Platz schleicht ein Hüne gesenkten Hauptes zur Mannschaftsbank. Havanna wechselt seinen Werfer, den Pitcher, wegen Erfolglosigkeit aus. Im Stadion ist die Begeisterung groß, und jetzt dämmert mir plötzlich auch der Titel der Begleitmusik: Chopins „Trauermarsch“ – was für eine Stimmung, was für ein Spiel!

Baseball ist nicht langweilig, das Doppel-Buch von Georg Bull ist es ebenso wenig.

Georg Bull: Baseball…my life not just a hobby, Jedermann-Verlag GmbH, Heidelberg 2021, 296 Seiten, 23,00 Euro.