Das stärkste Erlebnis ist der Himmel. Hundertmal hat man das gelesen, aber es ist ein Unterschied, ob man es liest oder selber sieht. Das Land ist nur die Plattform für die ständige Wolken-Dramaturgie. Dann der Wind. Er ist der ständige Begleiter dieser bizarren Gebilde. Es gibt nur wenige Momente, in denen er fehlt, und dann ballen sich die Wolken zu Türmen auf, werden träge und schwer und es beginnt zu regnen. Aber meist lässt sie der Wind nicht dazu kommen, treibt die Wolken wieder auseinander, formt sie neu und fährt ins Schilfgras wie ein wütender Gott. Wind und Wolken sind es, die einen die Anwesenheit der Elemente ständig empfinden lässt.
So braucht es keine Aussichtstürme oder „Hot Spots“, um Natur zu erleben; sie ist einfach da. Groß fühlt man sich und winzig klein zugleich, wenn man über den kilometerbreiten Sandstrand läuft und den Sandfahnen nachschaut, die der Wind aufwirbelt. Groß in dem Gedanken, dass die Kräfte, die hier walten, auch in einem selbst, wenn auch in anderen Dimensionen, tätig sind, im Blutkreislauf, im Herzschlag, im Vegetativen. Und klein, wenn man bei aller Lust am Elementaren erkennt, wie weit man davon entfernt ist.
T. empfindet das Watt, wenn es trocken liegt, wie das Ende aller Dinge. Wie nach einem Atomkrieg, sagt sie wörtlich. Ich denke das ganze Gegenteil. Mir erscheint es als der Anfang der Dinge: Urschlamm, aus dem sich alles Leben entwickelt hat. Die Vögel, die in Massen durch den Schlamm staksen, werden das ganz anders sehen. Ihnen geht es ums Fressen und nicht um die Moral. Leben ist eben mehr als Denken, nicht nur im Watt.
Gerade Amrum erscheint mir immer wie der Ausnahmezustand. Am Horizont grüne Krüppelwiesen, Pferde grasen im Abendlicht, die Sonne steht endlos am Horizont, auch ihr scheint das Bild so gut zu gefallen, daß sie noch ein wenig zuschauen möchte. Nachts herrscht auf der Insel generelles Fahrverbot. Mitternacht – ist es noch hell – wird das letzte Bier gezapft, man kann noch immer die Namen auf den Grabsteinen des Inselfriedhofes entziffern.
Die Leute unterm Rasen heißen alle Hansen oder ähnlich wie unser Bäcker oder die wenigen Gasthöfe. An der Gischt zeigt sich, wie kaputt auch die Nordsee schon ist. Vor Jahren waren es noch blütenweiße Fetzen, die sich im Wind rasch auflösten. Heute hängt eine klebrige, gelbliche Plastikmasse am Strand, ballt sich zu ekligen Klumpen zusammen und selbst ein starker Wind kann von der Oberfläche nur kleine Boller lösen, die wie giftige Kugeln über den Sand rollen. An der Flutlinie kann man, wenn das Wasser abgeflossen ist, eine unnatürliche Färbung des Sandes erkennen, hier hat sich der Abschaum niedergesetzt, bis mit der nächsten Flut der nächste kommt.
Diese gelbliche Gischt zeigen die Amrumer ungerührt in ihrem Prospekt, keiner scheint sich aufzuregen. Ich tue es und zahle aus Protest keine Kurtaxe. Doch der Wirt im Bahnhofsrestaurant – wie alle hier am ungestörten Badebetrieb interessiert – spielt die Sache herunter. Es sei lange Landwind (oder wie es fachmännischer heißt: ablandiger Wind) gewesen, der ganze Dreck vom Watt also jetzt bei Flut an der offenen Küste. Später im dänischen Jütland sehen wir noch Schlimmeres: links und rechts der Straße abgestorbene Nadelbäume. Eine kilometerlange braune, tote Stangenlandschaft, die jede Urlaubsfreude nimmt. Schnell fahren wir weiter …
„Grüß Gott“ fällt hier oben auf. Aber nicht unangenehm, wie es scheint. Ein alter Friese antwortete sogar mit diesem Gruß, bei dem wir uns im Süden genauso wenig denken wie die im Norden mit ihrem „Moin, Moin“. In unseren Ohren klingt es unverbindlich schnoddrig, beinahe kalt gegenüber dem melodischen „Grüß Gott“. Der, der diesen „Gott“ erwiderte, war ein Einheimischer, selbst erstaunt, dass ihm diese Antwort über die Lippen kam wie das Vaterunser in der Kirche. Andere schauen einen an wie ein Fabelwesen von einem anderen Stern …
Skagen, wo Nord- und Ostsee zusammenströmen, empfängt uns geradezu südländisch. Es ist noch „Pinse“ (Vorsaison), doch im Hafen drängeln sich schon die Yachten. Man sitzt im Freien vor dem „Fiske Restaurant“ und vertreibt sich die Zeit bis zum Abendessen mit „Fad-Oel“. Zum ersten Mal auf dieser Nordlandreise begegnen uns „Yuppies“, wie sie sich überall auf der Welt treffen, wo etwas los ist. Davon spürt man weniger im Seemannsheim (dänisch klingt das lustiger: Somandshejm), wo wir direkt gegenüber den Fischhallen ein preiswertes Quartier finden.
Kurz vor Mitternacht, noch immer taghell, aber beginnt die große Heringsanladeorgie, begleitet von einem infernalischen Fischgestank. Die Gabelstapler rasen vom Fisch zur Lagerhalle und wieder zurück. Dort stehen verwegene Figuren in Schürzen und in hohen Schaftstiefeln auf breitgetretenen Heringsköpfen und schaufeln die Fische in Plastikkisten, eine Schippe Eis darüber – ab geht’s! Ich verliebe mich in eine Makrele, die vom Ladepodest heruntergefallen ist und nun hilflos und unbeachtet zwischen ihren Leidensgenossen zappelt. Traue mich aber nicht, sie einfach wegzuschnappen – bis einer der Stiefelmänner sie beinahe zerquetscht. Da fasse ich mir ein Herz und spreche den Jüngsten der Fischverlader – ein Mann mit einem guten Gesicht – darauf an, ob ich sie haben könne. Er schenkt mir gleich noch drei weitere Prachtexemplare. Die grillen wir am nächsten Tag auf Strandholu. Wir graben ein Feuerloch im Sand und erinnern uns der Steckerlfische Münchner Biergärten. Unsere Makrelen schmecken besser und wenn uns nicht irgendjemand den zur Kühlung im Sand eingegrabenen, hier oben sauteuren, französischen Wein geklaut hätte, wäre das der Schmaus aller Schmäuse gewesen.
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