24. Jahrgang | Nummer 16 | 2. August 2021

Ein vergessener Wenderoman

von Manfred Orlick

Kritiker und Literaturwissenschaftler halten den vor zwanzig Jahren erschienenen Roman „Colón” von Jan Groh für einen der bedeutendsten und authentischsten Wenderomane. Der Literaturwissenschaftler Arne Born attestierte dem Roman sogar „eine singuläre Position innerhalb der Wendeliteratur“. Doch das Buch wurde vom Literaturbetrieb kaum wahrgenommen. Vielleicht lag es an dem ungewöhnlichen Titel, der auf Christoph Kolumbus (spanisch: Colón) anspielte, der auszog, die Fremde zu entdecken. Eine Suche, die – wie wir heute wissen – zugleich Elemente des Scheiterns und der Zerstörung in sich trug.

So ist auch die Editionshistorie von Grohs Roman eine schicksalhafte Geschichte des Scheiterns. Zunächst sollte der Groh in den späten 1990er Jahren im Verlag Volk und Welt publiziert werden; doch ein halbes Jahr vor Erscheinen wurde der Verlag von Luchterhand aufgekauft und damit wurde der Roman ein Opfer der Verlagsübernahme. Nachdem zahlreiche andere namhafte Verlage das Manuskript abgelehnt hatten, veröffentlichte Groh sein Werk schließlich als „Book on Demand“. Auch eine Neuauflage 2010 unter dem veränderten, etwas abwegigen Titel „Ostbrot – Eine Irrfahrt im Wendeherbst“ in dem kleinen Prospero Verlag, Münster, blieb weitgehend unbemerkt.

Im Rahmen des „Deutschen Kulturrates“ hatte Arne Born im März 2020 an alle deutschsprachigen Verlage appelliert, die sich „eine Verantwortung für die deutsche Gegenwartsliteratur zugutehalten“, „dieses literarische Juwel dem Lesepublikum wieder zugänglich zu machen“. Doch nur der neu gegründete Verlag Sol et Chant ganz am östlichen Rande Deutschlands, im oderbruchigen Letschin, hat diesen Appell aufgenommen und „Colón“ als seinen ersten Titel herausgebracht.

Im Roman führt Groh die Leser zurück in den Sommer 1989. Der Hamburger Ludger Braun verbringt gerade seinen Urlaub in Barcelona, als ihn ein Telegramm seiner Mutter erreicht: sein vier Jahre jüngerer Bruder Gernot habe eine Hirnblutung erlitten und liege im Sterben. Ein paar Tage später schläft Gernot ein. In den Unterlagen seines Bruders entdeckt Ludger Merkwürdiges. Gernot hatte Kontakt zu einem Dissidenten-Kreis in der DDR und wollte die Ostberlinerin Rachel durch eine Ehe aus der DDR herausheiraten. Nun wird Ludger von Freunden gedrängt, die Identität seines Bruders anzunehmen. Tatsächlich kann die Hochzeit in Ostberlin ohne bürokratische Hürden stattfinden. Doch die Stasi ist längst über den Rollentausch der Brüder informiert. Bei der nächsten Einreise in die DDR wird Ludger vom MfS verhört und unter Druck gesetzt, sodass er sich als IM „Colón“ zu einer Zusammenarbeit gezwungen sieht. Damit wird er zum Verräter an sich selbst und an seinen neuen Ostberliner Freunden. Danach gerät Ludger in die sich überschlagenden Ereignisse: Protestdemonstration während des 40. Jahrestag der DDR-Gründung, Demonstration am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz und schließlich die Öffnung der Mauer fünf Tage später.

Die Handlung wird konsequent aus der Sicht des Protagonisten erzählt. Durch die Betrachtung von außen entsteht eine authentische Schilderung der realhistorischen Ereignisse im Herbst ’89. Die Ostberliner Oppositionellen-Szene wird nicht als eine einheitliche Bewegung aufgefasst, sondern differenziert als Umwelt-, Friedens- und Bürgerrechtsgruppen beschrieben. Ludger ist jedoch von ihrem politischen Konzept wenig überzeugt, dagegen fasziniert von ihrem unkonventionellen Lebensstil.

Der 1964 in Kiel geborene und heute im Oderbruch wohnhafte Autor hat in dem Roman sicher auch persönliche Erlebnisse verarbeitet, denn im September 1989 besuchte er anlässlich der „Scheinheirat“ einer westdeutschen Freundin mit einem ostdeutschen Mann erstmals die DDR

Mitunter wird Groh jedoch zu sehr zum Chronisten und gleitet dabei ins Dokumentarische ab. Die Lektüre verlangt außerdem viel Konzentration, da der Text meist aus kurzen Sätzen (mitunter im Staccato-Stil) besteht. Auf die ungewohnte Syntax und Erzähltechnik muss sich der Leser zunächst einlassen – dann aber erwartet ihn eine spannende, originelle, oft witzige und vor allem klischeefreie Lektüre.

Jan Groh: Colón. Verlag Sol et Chant, Letschin 2021, 472 Seiten, 24,80 Euro.