24. Jahrgang | Nummer 16 | 2. August 2021

Der Westen & Russland – zum Diskurs

von Wolfgang Schwarz

Die NATO-Führer sagen,
dass sie die Tür für einen sinnvollen Dialog
mit Russland offenhalten, aber das Bündnis
hat keine ernsthaften eigenen Vorschläge gemacht.

Adam Thomson,
Chef des European Leadership Networks

Die Beziehungen zu Russland deswegen
[Annexion der Krim – W.S.] einzufrieren
hieße, den Westen zu einer moralisch
aufgeladenen Handlungslosigkeit zu verurteilen,
die so fruchtlos wäre wie die seit 60 Jahren
andauernde US-Blockade Kubas.

Theo Sommer,
Ex-Chefredakteur
und -Herausgeber DIE ZEIT

[…] alles hängt von Moskau ab.

Antony Blinken,
US-Außenminister

Dass es zwischen Kontrahenten, zwischen denen ein Krieg zu verheerenden Folgen weit über die unmittelbar Beteiligten hinaus führen könnte, allemal besser ist, miteinander anstatt bloß noch über- und gegeneinander zu reden, ist eine Binsenweisheit. Trotzdem bleibt es das Geheimnis der deutschen Bundeskanzlerin und des französischen Präsidenten, warum sie beim jüngsten EU-Gipfel vorgeschlagen haben, die EU möge sich mit Russlands Präsidenten an einen Tisch setzen. Zwar verdient diese Initiative das Prädikat „vernünftig“, doch andererseits musste von vornherein klar sein, dass mindestens die baltischen Staaten und Polen dagegen votieren würden.

Deren konfrontativen Politikansatz gegenüber Moskau hat kürzlich die Direktorin des Estionian Foreign Policy Institutes in Tallinn, Kristi Raik, in einem Beitrag für Internationale Politik. Quarterly mit dem Titel „Deutschlands gefährlicher Idealismus gegenüber Russland“ durchdekliniert. Darin heißt es: „In diesem Artikel wird die deutsche Russlandpolitik aus vier Gründen kritisiert: wegen ihres unrealistischen Verständnisses der (geo)politischen Aspekte wirtschaftlicher Beziehungen, wegen ihrer Vernachlässigung der militärischen Macht, wegen ihres unbegründeten Optimismus’ hinsichtlich der Effektivität von Engagement und Dialog sowie wegen ihrer Tendenz, den Beziehungen zu Russland Vorrang vor den existenziellen Sorgen der deutschen Verbündeten und Partner in Mittel- und Osteuropa einzuräumen.“ Konkret brachte Raik in ihrer Philippika unter anderem vor,

  • dass „Russland die begrenzten wirtschaftlichen Instrumente, über die es verfügt, vor allem Energieressourcen, als Teil seines Werkzeugkastens zur Ausübung von geopolitischem Einfluss [nutzt]. Nord Stream 2 ist ein typisches Beispiel dafür.“
  • dass „Deutschland […] die verstärkte Präsenz der NATO an der Ostflanke eher widerwillig mitgetragen“ habe. Oft habe es „den Anschein, dass Deutschland nicht von der Rolle einer glaubwürdigen Verteidigung und Abschreckung gegenüber Russland als stabilisierender Faktor für die europäische Sicherheit überzeugt ist“.
  • dass „Deutschland einen fast doktrinären Glauben an den Wert der Pflege des Dialogs mit Russland“ habe, was „die Illusion fördert, dass die Beziehungen gut sind, auch wenn sie es nicht sind“.
  • dass die deutsche „Priorisierung der Beziehungen zu Russland den paradoxen Effekt [hat], dass die grundlegende Frage der europäischen Sicherheit nachgeordnet“ werde.

Und dann ex cathedra das folgende Absolutum: „Die Prinzipien der positiven Interdependenz und des freundschaftlichen Engagements passen ganz einfach nicht zu Russlands Wahrnehmung seiner Interessen und zum Wesen seines derzeitigen Regimes.“

Der frühere polnische Außen- und Verteidigungsminister Radosław Sikorski hatte dieser Tage einen weiteren fundamentalen Kritikpunkt parat: „Die Deutschen fühlen sich von Russland einfach nicht bedroht.“

Natürlich ist es das souveräne Recht der baltischen Staaten und Polens, auf der Basis derartiger Auffassungen ihr Verhältnis zu Russland konsequent konfrontativ zu gestalten und in der EU wie in der NATO jeden anderweitigen Ansatz durch ihre Gegenstimmen, die, solange das Einstimmigkeitsprinzip gilt, einem Veto gleichkommen, zu blockieren. Und nicht wenige im Westen haben angesichts der historischen Erfahrungen dieser Staaten mit Russland, respektive der Sowjetunion Verständnis für eine solche Verhaltensweise. Nur wird weder das eine noch das andere und schon gar nicht der „Stolperdraht“ aus zusammengewürfelten viermal je 1000 Mann NATO-Verbände an der sogenannten Ostflanke des Paktes etwa das Baltikum davor bewahren, im Falle eines militärischen Konfliktes binnen kurzem von russischen Streitkräften überrannt zu werden. Dafür sorgten im Falle des Falles allein das regionale Kräfteverhältnis und die Geografie. Dass die NATO als Bündnis im Verhältnis zu Russland über mehr als hinreichend konventionelle Streitkräfte verfügt, um anschließend in Raum greifenden Operationen den Status quo ante wiederherzustellen, steht zwar außer Frage, sollte allerdings die russische Führung dadurch die staatliche Existenz des Landes in Gefahr sehen, würde sie auf Kernwaffen zurückgreifen. So steht es in der geltenden russischen Militärdoktrin.

Wie quasi aus heiterem Himmel sich der Auslöser für eine entsprechende Entwicklung ergeben kann, haben die jüngsten militärischen Zwischenfälle im Schwarzen Meer gezeigt. Da wurde unter anderem ein britisches Kriegsschiff durch Bombenabwürfe vor seinen Bug zur Kursänderung gezwungen, als es aus Moskaus Sicht in russische Hoheitsgewässer eingedrungen war, es „drohte vor der Küste der […] Schwarzmeerhalbinsel Krim für kurze Zeit eine regelrechte Seeschlacht“, wie es in der Frankfurter Rundschau hieß. Wladimir Putin verwies nach dem Zwischenfall darauf, dass der Zerstörer auch hätte versenkt werden können …

Das Dilemma des Baltikums besteht unverrückbar darin, das für seine militärische Gefährdung keine vertretbare militärische Lösung denkbar ist. Das Einzige, was in solchen Fällen wirklich hilft, ist konsequente Konfliktvermeidung durch eine Politik der Entspannung und des Aufeinanderzugehens. Nicht nur so gesehen sind ultimative Forderungen und Bedingungen an die Adresse Moskaus, wie sie in Warschau und den baltischen Hauptstädten gern formuliert werden, nicht zielführend. Und wer, wie jüngst Merkel und Macron, eigene anders gearteten Ansätze von der Russophobie Dritter lahmlegen lässt, der leistet nicht nur seinen eigenen Sicherheitsinteressen keinen guten Dienst, sondern objektiv selbst denen der Scharfmacher nicht.

Berlin und Paris sollten daher ihrerseits gemeinsam wieder einen kontinuierlichen Gesprächsfaden mit Moskau anstreben. „Die europäischen Werte und Interessen“, so Theo Sommer, verrieten „sie damit nicht. Im Gegenteil: Sie verschaffen ihnen damit Geltung.“

*

Wenn der Einäugige, wie man so sagt, unter den Blinden König ist, dann hätte sich das Nachrichtenmagazin DIE ZEIT in den letzten Jahren durch seine einseitige, herabsetzende Berichterstattung und Kommentierung im Hinblick auf Russland gleichwohl doch nicht selbst zum Monarchen geadelt, denn es bewegte sich damit nur auf dem Feindbildniveau nahezu aller deutschen Mainstream- und selbsternannten Qualitätsmedien.

Vom Glauben abfallen musste man deshalb trotzdem nicht, als DIE ZEIT kürzlich einem Gastautor namens Wladimir Putin Platz für einen Beitrag einräumte, denn bereits in der darauffolgenden Ausgabe erhielt der litauische Präsident Gitanas Nausėda die Gelegenheit, Putins ausgestreckte Hand mit einer Breitseite an Ablehnung brüsk zurückzuweisen.

Putin hatte die russische Sicht auf die Ursachen der Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Moskau und dem Westen – „Erweiterung der Nordatlantischen Allianz“; „Europa unterstützte aktiv den bewaffneten verfassungswidrigen Staatsstreich in der Ukraine“ – dargelegt, jedoch zugleich mit einer kooperativen Perspektive verbunden: „Wir sind offen für ein faires und kreatives Zusammenwirken. Dies unterstreicht auch unsere Anregung, einen gemeinsamen Kooperations- und Sicherheitsraum vom Atlantik bis hin zum Pazifik zu schaffen, der verschiedene Integrationsformate einschließen könnte, unter anderem die Europäische Union und die Eurasische Wirtschaftsunion. […] Russland plädiert für die Wiederherstellung einer umfassenden Partnerschaft zu Europa. Es gibt viele Themen von gemeinsamem Interesse: Sicherheit und strategische Stabilität, Gesundheit und Bildung, Digitalisierung, Energiewirtschaft, Kultur, Wissenschaft und Technologie, Lösungen für Klima- und Umweltprobleme.“ Und: „[…] wir können es uns einfach nicht leisten, die Last früherer Missverständnisse, Kränkungen, Konflikte und Fehler mit uns herumzuschleppen. Eine Last, die uns an der Lösung aktueller Probleme hindert. Wir sind überzeugt, dass wir alle diese Fehler einzuräumen und zu korrigieren haben.“

Eine Möglichkeit bestände darin, Russland einfach mal beim Wort zu nehmen. Doch das ist ja leider schon nach Putins historischer Rede vor dem Deutschen Bundestag am 25. September 2001 verabsäumt worden.

Nausėda konterte Putins ZEIT-Beitrag mit dem Verweis auf den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 sowie dessen Geheimprotokolle und mit Behauptungen wie: „Heute erleben wir aggressive Bemühungen, die UdSSR wiederherzustellen […]“, Moskau sei „zynisch und scheinheilig“, strebe danach „zu teilen und zu herrschen“. Da machte es den Kohl auch nicht mehr fett, dass dem litauischen Präsidenten an mancher Stelle die Relationen etwas aus dem Blick gerieten. So forderte er: „Wir müssen mehr Mittel für die Verteidigung bereitstellen.“ Und lieferte dafür diese Begründung: „Russlands Militärausgaben liegen bei über 50 Milliarden Euro.“ Beim derzeitigen Wechselkurs (Stand: 27.07.2021) knapp 60 Milliarden US-Dollar. Die jährlichen Militärausgaben der NATO beliefen sich 2020 bekanntlich auf 1028 Milliarden US-Dollar, also auf das 17,3-fache der russischen. Davon entfielen 311 Milliarden allein auf die europäischen Paktstaaten (plus Kanada), immerhin auch noch 5,2-mal mehr als im Falle Moskaus.

Dazu passend dannNausėdas Perspektive: „Damit der Dialog fortgeführt werden kann, muss Russland […] zunächst gewisse Bedingungen erfüllen. Es muss der Ukraine die Krim zurückgeben, den Krieg im Donezbecken beenden, seine Truppen aus Abchasien und Südossetien zurückziehen. Politische Gefangene freilassen. Unabhängige Medien unbehindert arbeiten lassen.“

Ein solcher Katalog verschiebt jegliche Ansätze zu einer Normalisierung des Verhältnisses zwischen dem Westen und Russland auf Sankt Nimmerlein, ohne dass Moskau vergleichbare Gegenforderungen etwa im Hinblick auf die Separation Kosovos von Serbien oder die Nichterfüllung des Minsk-II-Abkommens durch Kiew überhaupt noch aufmachen müsste.

Derzeit ist leider der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, dass Deutschland und andere westliche Staaten sich die Linie des Litauers und seiner Parteigänger auch weiterhin oktroyieren lassen werden. Oder wie anders wäre die Einlassung Angela Merkels nach dem Scheitern ihres und Macrons Vorstoßes auf dem jüngsten EU-Gipfel sonst zu verstehen? Die Bundeskanzlerin quittierte mit einem: „[…] so ist es auch gut […].“

*

Zu einigen im Westen häufig kolportierten, nichtsdestotrotz bisher jedoch unbewiesenen Anschuldigungen gegen Moskau, die zugleich als Rechtfertigung westlicher Sanktionen gegen Russland dienen, hat Theo Sommer unlängst einen pragmatischen Vorschlag zur Sache unterbreitet: „Themen wie Desinformation, Einmischung in die Innenpolitik und Spionage sollte man […] nicht in den Vordergrund schieben; sie gehören zum normalen Betrieb und werden von allen betrieben.“