Mit rund zwei Kilogramm ist dieses Buch wahrlich ein Schwergewicht und ebenso gewichtig ist sein Inhalt: 865 Briefe, geschrieben zwischen 1944 und 1959 – die Geschichte einer großen Liebe. Die jetzt in deutscher Übersetzung vorliegende Korrespondenz zwischen dem Schriftsteller Albert Camus und der Schauspielerin Maria Casarès wird, so prophezeit es Uwe Timm in seinem äußerst profunden und persönlichen Vorwort, „wahrscheinlich als eine der letzten in die lange Tradition romantischer Briefliteratur eingehen“. Denn geschrieben sind diese Briefe „in den höchsten, wenn nicht allerhöchsten Tönen der Minne, die man sich in der Prosa des 20. Jahrhunderts nur denken kann“ – das jedenfalls meint Iris Radisch, selbst Autorin einer äußerst lesenswerten Camus-Biographie.
Maria Casarès und Albert Camus lernten sich am 19. März 1944 bei einer Lesung im Haus von Michel und Zette Leiris kennen. Am 6. Juni, dem verheißungsvollen D-Day, wurden sie ein Paar. Casarès, die in Spanien geboren wurde und seit 1936 in Paris lebte, stand 1942 das erste Mal auf der Bühne des Pariser Théâtre des Mathurins. Drei Jahre später sollte sie durch ihre Verkörperung der Pantomimin Nathalie in dem Film „Kinder des Olymp“ über die Grenzen Frankreichs hinaus berühmt werden.
So stürmisch die Beziehung zwischen Camus und Casarès begann, so abrupt wurde sie schon nach wenigen Monaten unterbrochen. Als Francine Faure, die aus Oran stammende Ehefrau von Camus, im Spätherbst 1944 von einem längeren Aufenthalt in Algerien nach Paris zurückkehrte, trennte sich Casarès von Camus. Erst am 6. Juni 1948 trafen sich die beiden durch Zufall auf dem Boulevard Saint-Germain wieder. Wenige Wochen später nahmen sie ihre Beziehung erneut auf.
Wann immer sie fern voneinander waren oder die Sehnsucht zu groß wurde, schrieben sie sich Briefe – oft mehrmals am Tag. Zumeist ging es darin nur um sie selbst, um ihre Befindlichkeiten und um ihre Liebe. „Die Welt da draußen“, so fasst Uwe Timm die Atmosphäre ihrer Korrespondenz zusammen, „bleibt in diesen Briefen merkwürdig ausgeschlossen.“ Oft genug war sich Camus unsicher, ob er mit seinem Schreiben die von ihm erhoffte Wirkung erzielte. „Dass Du daran zweifelst“, erklärte ihm dann Casarès, „ist normal, es steckte kein Genie in Dir, wenn Du nicht zweifeltest.“
Durch Vortragsreisen oder auswärtige Film- und Theaterengagements getrennt zu sein, war vor allem für Camus ein nur schwer erträglicher Zustand. Kurz bevor er im Juni 1949 nach Südamerika aufbrach, gestand er Casarès: „Deiner beraubt bin ich steuerlos.“ Und vier Wochen später schrieb er ihr aus Rio: „Mein ganzes Leben habe ich mir die vollständige Komplizenschaft (im schönen Sinne dieses Wortes) mit einem Menschen ersehnt. Mit Dir habe ich sie gefunden und zugleich einen neuen Sinn für mein Leben.“
Wie tief sich Camus von Maria Casarès verstanden fühlte, wie sehr er sie brauchte, wie viel sie ihm bedeutete, das betonte er vor allem in den Briefen, die „ihrem Tag“ gewidmet waren. Im Rückblick auf die Anfänge ihrer Beziehung und die seither stetig gewachsene Rolle, die sie in seinem Leben spielte, schrieb er ihr am 6. Juni 1954: „Über diese zehn Jahre schreibe ich Deinen Namen, meine Liebste. Seit zehn Jahren grüße ich das Leben, mit Bedauern oder mit Hoffnung, durch Deinen Namen. Wem soll ich danken, wenn nicht dem Leben und Dir, mit meiner ganzen Liebe!“
„Ich warte auf Dich.“ Gleich mehrmals schrieb Maria Casarès diese Worte am Weihnachtsabend des Jahres 1959. Sie wartete auf die Rückkehr von Camus, „um zu erzählen, zu reden, zu sagen, zu lieben, mit [ihm] zu lachen“. Am 30. Dezember antwortete ihr Camus. Unbewusst ahnungsvoll die Einleitung seines Briefes: „Gut. Letzter Brief. Nur um Dir zu sagen, dass ich am Dienstag komme, mit dem Auto, zusammen mit den Gallimards“. – Sie sollten sich nicht wiedersehen. Auf der Rückfahrt nach Paris kam der von Michel Gallimard gelenkte Wagen ins Schleudern, Camus war sofort tot, Gallimard verstarb zehn Tage später.
Catherine Camus, die 14 Jahre alt war, als ihr Vater starb, schreibt: „Danke ihnen beiden. Ihre Briefe machen die Erde größer, den Raum leuchtender, die Luft leichter, weil sie gelebt haben.“ Mehr kann man nicht dazu sagen, man muss diese Briefe lesen.
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So, wie in den Briefen das Weltgeschehen „merkwürdig ausgeschlossen“ blieb, so findet sich in den von Albert Camus gehaltenen Vorträgen und Reden kein einziger Verweis auf sein eigenes literarisches Werk. Die insgesamt 34, zwischen 1937 und 1958 entstandenen Texte, von denen ein Großteil für die soeben erschienene Edition erstmals ins Deutsche übersetzt wurde, zeigen Camus als einen genauen Beobachter gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen, der sich bis heute weder von links noch von rechts vereinnahmen lässt. Es tritt uns vor allem ein Schriftsteller entgegen, der weit über das Tagesgeschehen hinaus dachte, und dessen Bücher man durchaus wieder einmal in die Hand nehmen sollte.
Zwei der sicherlich beeindruckendsten Reden hielt Camus während einer Vortragsreise durch die USA. Auf einer Veranstaltung der Columbia University widmete er sich Ende März 1946 dem Thema „Die Krise des Menschen“. Mit Blick auf die Fragestellung hatte er allerdings Zweifel, ob er die Zuhörer von seinen Argumenten würde überzeugen können. „Ich bin“, erklärte er einleitend, „noch nicht im Alter für Vorträge und fühle mich wohler beim Nachdenken, als wenn ich gezwungen bin, apodiktische Aussagen zu treffen.“ Camus kam jedoch sehr schnell zum Kern und betonte zum einen, dass es eine solche Krise tatsächlich gibt, zum anderen war ihm wichtig, diesen Zustand in Worte zu fassen, um die Krise für alle begreifbar zu machen. Als die eindeutigen Symptome der Krise benannte er die „Eskalation des Schreckens, die durch eine Pervertierung der Werte hervorgerufen wird“, die „Unmöglichkeit, den anderen zu überzeugen“, die Tatsache, „dass man den natürlichen Gegenstand durch die Drucksache ersetzt, mit anderen Worten im Aufstieg der Bürokratie“, und schließlich den Umstand, „dass man an die Stelle des wirklichen Menschen den politischen Menschen setzt“. All diese Symptome, so Camus, lassen sich in einem einzigen Argument zusammenfassen, in „dem, was sich zugleich als der Kult der Zweckmäßigkeit und der Abstraktion bezeichnen lässt“.
Am 1. Mai 1946 griff Camus den Grundgedanken dieses Vortrages noch einmal auf. Eingeladen vom New Yorker Brooklyn College konfrontierte er die Anwesenden mit der Frage: „Sind wir Pessimisten?“ Seine Antwort darauf lautete: „Die Krise des Menschen besteht wenigstens zur Hälfte aus der Gleichgültigkeit und der Erschöpfung der Individuen angesichts der starren Grundsätze und der Untaten, mit denen man nicht müde wird, die Welt zu überfluten. Denn die Versuchung der Gleichgültigkeit ist die stärkste Versuchung des Menschen.“ Und weiter hieß es: „Die Leute, die keine Lust haben, allzu lange über das menschliche Elend nachzudenken, ziehen es daher vor, auf eine sehr allgemeine Weise darüber zu reden.“
Eine seiner letzten Reden hielt Camus anlässlich der Verleihung des Nobelpreises am 10. Dezember 1957 in Stockholm. Er sprach an diesem Tag nicht nur über die Rolle der Kunst, die er als ein Mittel sah, „die größtmögliche Zahl von Menschen anzurühren, indem sie ihnen ein beispielhaftes Bild der gemeinsamen Leiden und Freuden vorhält“. Wichtig sei in diesem Zusammenhang vor allem seine Rolle, die Rolle des Schriftstellers. „Seiner Bestimmung gemäß kann [dieser] sich heute nicht in den Dienst derer stellen, die Geschichte machen: Er steht im Dienste derer, die sie erleiden.“
Trotz der Bestürzung und Panik, die die Nachricht von der Verleihung des Nobelpreises bei ihm ausgelöst hatte, unterwarf sich Camus dem damit einhergehenden protokollarischen Procedere. Doch die Feierlichkeiten belasteten ihn. Am Tag nach der Auszeichnung schrieb er an Maria Casarès: „Es ist mir faktisch unmöglich zu schreiben. […] ich bin müde und möchte schnell wieder abfahren.“ So wie andere Kollegen vor und nach ihm empfand er das Ganze als eine Art Fluch. Im November 1959 beklagte er sich bei seiner Geliebten: „Hast Du gesehen, dass man die Absicht hat, allen Nobelpreisträgern automatisch einen Lehrstuhl am Collège de France zu geben? Natürlich auch, ohne sie nach ihrer Meinung zu fragen. Können die mich nicht bald mal in Ruhe lassen mit diesem Nobelpreis? Ich merke schon, wenn sie nicht aufhören, werde ich einen Eklat provozieren, ich weiß nicht, splitternackt mit der Urkunde herumspazieren oder einen kleinen Jungen vergewaltigen. Man zwingt mich förmlich dazu.“
Albert Camus und Maria Casarès: „Schreib ohne Furcht und viel“. Eine Liebesgeschichte in Briefen 1944–1959, aus dem Französischen von Claudia Steinitz, Tobias Scheffel und Andrea Spingler, Vorwort von Uwe Timm, Vorbemerkung von Catherine Camus, Rowohlt Verlag, Hamburg 2021, 1565 Seiten, 50,00 Euro.
Albert Camus: Vorträge und Reden 1937–1958, aus dem Französischen von Andreas Fliedner, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg 2021, 412 Seiten, 16,00 Euro.
Schlagwörter: Albert Camus, Maria Casarès, Mathias Iven