24. Jahrgang | Nummer 12 | 7. Juni 2021

Walther Rathenau – „entbehrlich”?

von Eberhard Görner

Am 6. Juni 2018 hat der Kreistag von Märkisch-Oderland in Seelow mehrheitlich beschlossen, das Schlossensemble in Bad Freienwalde vorzubereiten für einen europaweiten Verkauf. Die Märkische Oderzeitung kommentierte diesen Beschluss mit einer Mahnung: „Verzichtbar, nutzlos, überflüssig. Das sind einige der Synonyme für das Wort ‘entbehrlich’. Auch wenn kein Abgeordneter solche Worte für das Schlossensemble Bad Freienwalde in den Mund nehmen würde, so bedeutet ihr Beschluss genau das. Bisher fehlte von allen Beteiligten der große Wille, eine Lösung zu finden. Man kann jedoch nicht im Obergeschoß eine kulturpolitische Sammlung (über Walther Rathenau) zeigen und gleichzeitig die untere Etage, Park und Teehäuschen brach liegen lassen. Das leuchtet jedem ein. Seit Jahren zieht sich die Diskussion hin. Offensichtlich vertrauen zu viele auf ihre Überzeugung, dass man so ein Kleinod nie und nimmer aufgeben würde. Doch in Zeiten knapper Kassen ist alles möglich. Der Beschluss sollte ein Weckruf sein, um einen Verkauf noch abzuwenden.“

Es gibt keinen Weckruf über diesen kulturpolitischen Skandal, ausgehandelt zwischen Landrat Gernot Schmidt (SPD) und dem Bad Freienwalder Bürgermeister Ralf Lehmann (CDU), weil sie sich seit Jahren nicht auf ein gemeinsames Finanzierungs-Konzept für Schloss Freienwalde einigen können. Der Kreis sieht für die Zukunft keine Verwendung für das in Brandenburg einzigartige Areal. Kreistagsabgeordneter Wolfgang Linke warnte davor, dass der Kreis sich eines der wenigen Kleinode des Klassizismus entledigt. Entbehrlich werde damit auch das Andenken von Walther Rathenau, dessen einzige Gedenkstätte in Deutschland im Schloss Freienwalde bisher Besuchern aus ganz Europa – noch wie lange? – offen steht.

Aber der Reihe nach. In meinem im Auftrag der Kultur GmbH Märkisch-Oderland 1998 produzierten Dokumentarfilm „SCHLOSS FREIENWALDE – BEWOHNER UND GÄSTE“ beschreibt Steffen Reiche, der damalige Brandenburger Kulturminister, die lokale wie globale Zukunft von Schloss Freienwalde: „Das Schloss wurde vom Kaiserlichen Kronbesitz zum Verkauf ausgeschrieben und musste neun Jahre warten, bis sich Walther Rathenau fand, um es 1909 zu erwerben und zu seinem Lebensmittelpunkt zu machen. Dieses Schloss macht deutlich, dass es durchaus gelingen kann, dass ein Kreis, welcher im kulturellen Bereich außerordentlich viel leistet, das Schloss und sein Umfeld unterstützt und sich dazu bekennt, dass seine Schönheit wiederhergestellt wird. Denn für die Gesamtentwicklung von Bad Freienwalde kann das Schloss ein ganzes Umfeld mitprägen. Seine Ausstrahlung, die in der Vergangenheit liegt, kann Entwicklungen von heute mittragen, von denen man hofft: hier kommt noch mehr! Von diesem Ort kann man weit ins Oderbruch hinein schauen. Mit seiner Geschichte, mit seiner preußischen Tradition im 19. Jahrhundert bis hin zu einem Mann wie Walther Rathenau, wird das Schloss auch im 21. Jahrhundert zu einem wichtigen Impulsgeber. Denn das 21. Jahrhundert braucht neue Orte für den europäischen Dialog und Schloss Freienwalde, nahe der polnischen Grenze, wird ganz gewiss dazu gehören.“

Inzwischen sind die unteren Räume leer geräumt von einer bis dato informativen Ausstellung über die preußische Geschichte des Schlosses. Historische Möbel, Bilder, Briefe, Porzellane, Spiegel, nichts ist mehr zu bewundern. Die Fensterläden sind geschlossen. Kein Sonnenstrahl fällt auf das Parkett im ehemaligen Speisesaal, wo nach 1990 kein Stuhl mehr frei war bei Lesungen, Sonderausstellungen und Konzerten.

Das Schloss Freienwalde, ein Kleinod preußischer Landbaukunst, wurde 1798 vom berühmten Architekten David Gilly als sommerlicher Witwensitz für Königin Friederike Luise erbaut. Die gediegene wohnliche Innenausstattung entsprach der Lebensauffassung der Königin. Im Park ließ sie sich ein kleines Theater errichten, das heute noch als „Teehäuschen” zu besichtigen ist. Das Schloss hat die Kindheit des preußischen Königs Wilhelm IV. mitgeprägt. In seinen Mauern sah es Könige, Prinzen, Generäle, Musiker, Maler und Dichter. Und es ist der Ort einer tragischen Liebe, die am Standesdünkel scheiterte, zwischen der polnischen Prinzessin Elisa Radziwll und Prinz Wilhelm von Preußen, dem späteren Kaiser Wilhelm I. Mit nur 31 Jahren starb Prinzessin Elisa Radziwill am 27. September 1834 – ihr Sterbezimmer in Schloss Freienwalde wurde zu einem Blumen-Garten. Ihre Marmorbüste schuf der Bildhauer Christian Daniel Rauch. Trauer und Freude sind Schwestern. In Bad Freienwalde entstand ein poetischer wie architektonischer Dialog. Das lag am guten Wasser vom Gesundbrunnen, das schon der Grosse Kurfürst von Brandenburg zu schätzen wusste. Die bezaubernde Landschaft der unendlichen Buchenwälder lockte Dichter wie die Gebrüder Grimm nach Bad Freienwalde, wo sie an ihren Haus-Märchen schrieben. Die Maler Carl Blechen und Adolf Menzel fanden ihre Motive, wie auch der Bildhauer August Gaul, welcher die Löwen vor dem Berliner Schloss schuf. Und der Garten-und Landschaftsarchitekt Peter Joseph Lenné, er hatte bei der Gestaltung des Kurparkes seine Hand im Spiel. In seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg – Das Oderland“ schwärmte Theodor Fontane: „Freienwalde – hübsches Wort für hübschen Ort.“ Die Bade-Lust animierte die Bau-Lust: Carl Langhans, der Erbauer des Brandenburger Tores, errichtete ein prächtiges Badehaus. Karl Friedrich Schinkel versuchte sich erfolgreich in Bade-Architektur. Im Kur-Theater gab es Schauspiel und Musik – und mit Walther Rathenau zog noch einmal europäischer Geist in Schloss und Park ein.

Walther Rathenau war nicht nur ein vielbeschäftigter Wirtschafts-Manager, Präsident der AEG, Schriftsteller und als Neffe und Schüler von Max Liebermann auch als Maler begabt. Mit dem Erwerb des Schlosses schuf er sich ein poetisches Refugium. Hier schrieb er, mitten im 1. Weltkrieg, sein Buch „Von kommenden Dingen“ in dem er visionär unsere heutige globale Welt voraussah. Thomas Mann interessierte sich sehr für Rathenaus Schriften über eine geordnete Marktwirtschaft, die sich ihrer sozialen Verantwortung bewusst ist. Schloss Freienwalde und sein neuer Besitzer Walther Rathenau waren bald in aller Munde, und so verwundert es kaum, dass nicht nur Rathenaus Freunde, wie Stephan Zweig oder Gerhart Hauptmann, nach Freienwalde kamen. Auch seinen Verleger Samuel Fischer zog es an die Oder. Zusammen mit der Schriftstellerin Anette Kolb, Ludwig Justi, dem Direktor der Berliner Nationalgalerie, Walter von Heymel und dem Autor Fritz von Unruh, besuchte am 5. Mai 1912 diese illustre Gesellschaft Schloss Freienwalde und seinen Hausherrn Walther Rathenau.

Rathenau beschäftigte sich intensiv mit Philosophie und Wirtschaftstheorie. Seine Gedanken für eine neue Gesellschaft lesen sich, als wären sie heute geschrieben: „Es gibt wirtschaftliche Forderungen, und es gibt gesellschaftliche. Beide berühren sich, bezwecken das Gleiche: Hebung und gerechten Ausgleich des Wohlstandes. Die Fehler unseres Gesellschaftsaufbaues waren: Anhäufung des Vermögens und der Macht in wenigen Händen. Der Einwand, dass große Vermögen notwendig sind, um Kapital für die Industrie zu schaffen, ist falsch. Viele mittlere Vermögen werden stärkere Beteiligung an wirtschaftlichen Unternehmungen liefern als wenige große. Die Gesellschaft muss volkstümlich, die Wirtschaft sittlich werden.“ Den Ersten Weltkrieg und sein Ende empfand Walther Rathenau als den größten „Zusammenbruch der Weltgeschichte“. Doch war er auch – nach Golo Mann – „der heißeste Patriot und einer der ganz wenigen geistig schöpferischen Staatsmänner!“

Nur so ist zu verstehen, dass er sich im Nachkriegsdeutschland als Wiederaufbauminister zur Verfügung stellte und am 31. Januar 1922 zum einzigen jüdischen Außenminister in der deutschen Geschichte berufen wurde. Auf Schloss Freienwalde erarbeitete er den Vertrag von Rapallo, welcher dem ehemaligen Feind Russland die Hand reichte, um gemeinsam das soziale und wirtschaftliche Nachkriegs-Chaos für Deutschland und Sowjet-Russland zu überwinden. Dafür wurde er von rechtsradikalen Nationalisten am 24. Juni 1922 ermordet. In unserem im Auftrag der Stadt Bad Freienwalde 2011 produzierten Dokumentarfilm „Von kommenden Dingen – Walther Rathenau in Freienwalde – ein Leuchtturm in Europa“ erklärt Landrat Gernot Schmidt: „Rathenau war ein Weltbürger. Wir können nur diesen Ort zu einem internationalen Ort machen, wenn wir eben Grundlagen schaffen. Und die haben wir geschafft – und jetzt brauchen wir Partner, die diesen Ort noch attraktiver machen und damit auch die Stadt Bad Freienwalde aufwerten.“ Dr. Reinhard Schmook von der Walther Rathenau Stift gGmbH erklärt: „Hier ist der einzige Ort in ganz Deutschland, wenn nicht in der ganzen Welt, wo man sich über Rathenau informieren kann. Unsere Vision für dieses Anwesen: es ist ein europäischer Leuchtturm.“ Bürgermeister Ralf Lehmann betont: „Die Positionierung zu Rathenau ist eindeutig. Wir werden in Zusammenarbeit mit dem Landkreis und der Walther Rathenau Stift gGmbH das Schloss-Ensemble und Walther Rathenau weiter heraus stellen.“ Und Landrat Gernot Schmidt stellt fest: „Wir haben ja mit diesem Ort einen Bereich, der eine europäische Dimension hat, auch eine osteuropäische. Wir bewegen uns da in einer Dimension, die für Deutschland ganz wichtig ist.“

Im Jahre 20l9 sind alle diese politischen Aussagen Schnee von gestern. „Wir werden klagen, wenn der Landkreis das Schloss verkauft“, betont Marie-Theres Suermann, Vorsitzende des Freundeskreises Schloss Freienwalde. Grund sei die Stiftung, dass der damalige Landkreis Oberbarnim Schloss und Park (11 Hektar) nach der Ermordung von Rathenau von den Erben als Schenkung bekam, unter der Voraussetzung, „hier eine Stätte der Erinnerung an die altpreußische Kultur und an Walther Rathenau einzurichten.“ Deshalb protestiert der Freundeskreis: „Man kann doch eine Stiftung nicht einfach verscherbeln!“ Kann man doch, wie am 16. Mai 20l8 in der Märkischen Oderzeitung zu lesen war: „Seit Januar 20l7 verwaltet der Kreis die Liegenschaft. Die Betriebs-und Unterhaltungskosten decken nicht die Einnahmen. Der Kreis sieht keine Verwendung für den Komplex. Nun soll er europaweit ausgeschrieben werden.“ Mit der Verkaufsabsicht verbindet der Landkreis, um diesen kulturpolitischen Skandal zu vernebeln, die absurde Idee, dass im ersten Stock des Schlosses, nach gelungenem Verkauf an einen privaten Investor, die einzige Walther-Rathenau-Gedenkstätte in Deutschland weiter für Besucher zugänglich bleibt. Das ist die kleine Politik.

Wie sieht es mit der großen aus? Millionen hat die Bundesrepublik investiert, um die literarischen Tempel des deutschen Exils, die Villen von Lion Feuchtwanger und Thomas Mann, in Los Angeles/USA als Verteidigung deutscher Kultur gegen die Nazi-Barbarei leuchten zu lassen. Für eine solche außenpolitische Initiative kann es nur größte Hochachtung geben. Beim Versuch, die Bundesregierung darauf aufmerksam zu machen, dass Märkisch-Oderland gerade dabei ist, den europäischen Leuchtturm Walther Rathenau in die Luft zu sprengen, ist das Außenminister Heiko Maas keine Antwort wert. Das Bundespräsidialamt verweist darauf, „dass die Angelegenheit ausschließlich eine Sache des Landkreises und der Stadt Bad Freienwalde ist.“ Gerhard Schröder, Bundeskanzler a.D., bedauert: „… ich habe leider keine Möglichkeiten, bei den Bemühungen um einen Erhalt der Gedenkstätte für Walther Rathenau behilflich zu sein.“ Und die Bitte an Dr. Martina Münch, Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kultur im Land Brandenburg, Ministerpräsident Woidke die Frage vorzulegen, dass Schloss Freienwalde, das europäischen wie humanistischen Geist verkörpert, verbunden mit deutsch-jüdischer Geschichte, dass ein so wertvolles historisches Ensemble nicht als „entbehrlich“ politisch entwertet werden darf, wird mit Schweigen quittiert.

Postscriptum

Am 24. November 2020 schreibt die Märkische Oderzeitung: „Bundesweites Projekt kürt das Walther-Rathenau-Schloss in Bad Freienwalde als Ort der Demokratie, an dem die wechselvolle Geschichte der Demokratie ablesbar ist. Damit gehört Bad Freienwalde in die Reihe der Orte in Deutschland, an denen das Andenken engagierter Demokraten wachgehalten wird.“

Eberhard Görner ist Autor, Regisseur und Dokumentarfilmproduzent. Er lebt in Bad Freienwalde.