24. Jahrgang | Nummer 10 | 10. Mai 2021

LEIPZIG

von Henry-Martin Klemt

Vor meinem Fenster
vereinigten sich
Strom Fernweh und
Strom Heimweh. Dazwischen
ließ ein Telefon seinen
Hörer hängen, eine
Angel in die Nacht.
Fernsprech war
unsere Sprache: Fasse dich
kurz!

Heute.
Morgen.
Ich komme.
Ich gehe.
Ich liebe dich.
Liebe dich nicht.
Geh doch!
Komm doch!
Ich warte.
Jetzt und

in alle Ewigkeit, daß es
klingelt. Am Taxistand
schaute das Treibgut der Stunden
in den Mond. In solchen Nächten
bemalte ich meine Wände
mit Pflanzen und Tieren. Auf
meinem Fensterbrett morgens
der Dieselruß: ein Kalender
ohne Zahlen. Schnee darunter
hieß Winter. Ich hielt es im Bett
allein nicht mehr aus.

Komm doch!
Bleib doch!
Ich liebe dich.
Liebe dich nicht.

Wir holten uns Brötchen
am Eutritzscher Markt
und aßen am Fenster,
vor dem sich der Strom
Sehnsucht teilte, bevor er
die Stadt erreichte, in
Heimweh und
Fernweh und uns
in seine Mitte nahm.

April 2021