24. Jahrgang | Nummer 10 | 10. Mai 2021

Jüdische Jugend zwischen Böhmen und Kanada

von Mario Keßler

Ende Oktober 1918 ging die Tschechoslowakei aus dem zerfallenden Habsburgerreich als parlamentarische Republik hervor. Dabei blieb der Antisemitismus bis zur Okkupation durch Hitlerdeutschland 1938 im tschechischen Landesteil nur eine Randerscheinung. Eine der Ursachen war die durch Staatspräsidenten Tomáš Garrigue Masaryk geprägte pluralistische politische Kultur, was die Tschechoslowakei von vielen Nachbarländern unterschied. Bei der Volkszählung 1921 konnte neben der Religion auch die Zugehörigkeit zur jüdischen Nationalität als Option angegeben werden. In Böhmen und Mähren tat dies jedoch, anders als in den östlichen Landesteilen, nur rund ein Drittel der jüdischen Bevölkerung, während sich die Mehrzahl den Deutschen zurechnete. Die böhmischen Juden fühlten sich assimiliert und anerkannt, zumal viele von ihnen die jüdische Religion nur noch sehr lax praktizierten und sogar am christlichen Weihnachtsfest ihren Tannenbaum schmückten. So tat dies auch die Familie von Wilma Iggers, die am 23. März 1921 in Mirschigkau (heute Mířkov), einer kleinen Gemeinde im südlichen Egerland geboren wurde und auf dem elterlichen Bauernhof im nahegelegenen Bischofteinitz (heute Horšovský Týn) aufwuchs. Heute lebt die einhundertjährige Kulturhistorikerin und Germanistin in Albany, nahe Buffalo im US-Staat New York.

Die Familie hatte sich einen bescheidenen Wohlstand erarbeitet, stand politisch gemäßigt links von der Mitte und wählte die Jüdische Partei (Židovská strana), die mit der Tschechischen Sozialdemokratie bei Wahlen ein Bündnis einging. Wilmas Vater Karl Abeles drückte dem Deutschen Fußball-Club (DFC) Prag die Daumen. Ihre Mutter Elsa geb. Ornstein war in Waldmünchen in der Oberpfalz an der deutsch-böhmischen Grenze geboren, doch stammte die Familie ebenfalls aus Böhmen.

Wilhelmina Abeleles, dies war ihr Geburtsname, wuchs mit deutscher Muttersprache auf und lernte erst in Vorbereitung auf das Gymnasium Tschechisch, beherrschte die Sprache bald aber fließend und begeisterte sich für die tschechische Kultur und Literatur, vor allem ihre Märchen- und Sagenwelt. Sie schildert dies und weitere Begebenheiten ihrer Kindheit und Jugend in ihrem kleinen Erinnerungsbuch „Böhmische Juden. Eine Kindheit auf dem Lande“, das Monikas Richarz, die frühere Direktorin des Hamburger Instituts für die Geschichte der deutschen Juden, umsichtig edierte.

Vor 1938 bemerkte Wilma wenig von den deutsch-tschechischen Spannungen und auch noch wenig vom Antisemitismus. Doch nach dem „Anschluss“ Österreichs an Deutschland im März 1938 begann sich die Familie ernsthaft darüber Sorgen zu machen, dass sie in Gefahr geraten könne. Im Mai drängte sie schließlich ein sozialdemokratischer Freund, das Land zu verlassen. Er sehe, so sagte er, Möglichkeiten eines beruflichen Neuanfangs in Kanada.

Karl Abeles reiste mit einem Touristenvisum nach Kanada, um eine solche Möglichkeit zu eruieren. Als ausgebildeter Landwirt hatte er bessere berufliche Möglichkeiten als fast alle anderen auswanderungswilligen Juden, und so erhielten er und die Familie die Chance auf Einwanderung. Ein Problem aber war zunächst, dass jede einwanderungswillige Familie eintausend kanadische Dollar als Anzahlung für eine Farm nachweisen musste, die nur schwer zu beschaffen waren. Es gelang aber schließlich doch, und im September 1938 verließ die gesamte Familie Bischofteinitz in Richtung Prag. Bei der Auswanderung erfuhr sie Hilfe durch einen deutschen Freund, der nach 1945, selbst aus der Tschechoslowakei vertrieben, von Karl Abeles mit Care-Paketen unterstützt wurde.

Im Oktober 1938 gelangten Wilma und ihre Familie in einer Gruppe von 39 Personen über Belgien und England nach Kanada, zunächst nach Montreal. Von dort fuhren sie auf eine Farm in der Nähe von Hamilton (Ontario). Während ihrer Reise erfuhren sie vom Münchner Abkommen, das ihre ehemalige Heimat den deutschen Okkupanten auslieferte.

Gibt es eine Mehrzahl des Wortes Heimat? „Viele Heimaten sind so gut wie verschwunden, aber die Heimat meiner Kindheit mehr als die meisten“, schreibt Wilma Iggers. Weder die jüdische noch die deutsche Bevölkerung lebe noch dort. Von ihrem einstigen Heim, Haus und Garten ist keine Spur mehr übrig. „Wem kann ich noch erzählen, wie es damals war? Es gibt niemandem mehr, zu dem ich sagen kann: ‚Weißt du noch?‘“

Damit schließt das Buch, aber nicht die Geschichte. Wilma lernte sehr rasch Englisch und schloss nach nur einem Jahr die High School ab. Ab 1940 studierte sie Deutsch und Französisch und erwarb schließlich in Chicago mit einer Arbeit über Karl Kraus den Doktorgrad. In Chicago lernte sie auch ihren späteren Ehemann kennen. Georg Iggers (1926–2017) stammte aus einem jüdischen Elternhaus in Hamburg und studierte Geschichte. Er wurde ein sehr bekannter Wissenschaftler mit dem Schwerpunkt internationale Historiographie-Geschichte, während ihr Spezialgebiet zunächst die deutschsprachige Literatur- und dann die europäisch-jüdische Sozialgeschichte wurde. Wilma und Georg bekamen drei Söhne, denen sie ein beispielhaftes Leben vorlebten: Sie arbeiteten, zunächst auch mit Zeitverträgen an kleinen Hochschulen des amerikanischen Südens, bevor beide in Buffalo Professuren erhielten: Georg an der State University of New York at Buffalo, Wilma am Canisius College. Die schließlich gelungene akademische Laufbahn aber erkauften sie sich nicht mit politischen Zugeständnissen. Beide waren, in einer Zeit, die hohe persönliche und berufliche Risiken barg, in der Bürgerrechtsbewegung aktiv, setzten sich für das Ende der „Rassen“-Trennung ein und unterstützten Wehrdienstverweigerer, die den Gestellungsbefehl nach Vietnam verweigerten.

Wilma und Georg Iggers wurden auch zu Mittlern zwischen den Welten im Kalten Krieg. Sie suchten, sobald dies möglich war, Kontakte nach Bischofteinitz; der Ort verlieh Wilma Iggers schließlich die Ehrenbürgerschaft. Zeitweise auch in Göttingen lebend, öffneten Georg und Wilma Iggers einer jungen westdeutschen Historikergeneration Wege zum Studium und zur Forschung nach Nordamerika. Als Gäste auch von Universitäten und Akademie-Instituten der DDR knüpften sie Kontakte zu kritischen, linken Kirchenkreisen. Ebenso selbstverständlich war für sie die Unterstützung der vom Hinauswurf bedrohten und oftmals betroffenen Historiker der DDR nach 1990 – obwohl sie deren frühere Prämissen kritisiert hatten. Auch der Verfasser dieser Zeilen hat durch Georg und Wilma, die ihm zu engen, stets uneigennützigen Freunden wurden, viel an Solidarität erfahren dürfen. Wie Wilmas wissenschaftliche Arbeiten, so zur Literaturgeschichte, zur Geschichte böhmischer Frauen und über die Juden in der Tschechoslowakei, wie auch die gemeinsam mit ihrem Mann verfasste Doppel-Autobiographie Zwei Seiten der Geschichte. Lebensbericht aus unruhigen Zeiten (2002) kündet auch dieses kleine, mit vielen Familienphotos versehene Erinnerungsbuch von der Menschlichkeit einer in jeder Hinsicht hellwachen Zeitgenossin.

Wilma Iggers: Böhmische Juden. Eine Kindheit auf dem Lande. Herausgegeben von Monika Richarz, Berlin, Hentrich & Hentrich, 2020, 108 Seiten, 14,90 EUR.