Aus Halle/Saale war er 1987 nach Röntgental an der Peripherie von Berlin übergesiedelt. Seit den 70er Jahren war für ihn, den Bildhauer, Grafiker und Zeichner Claus-Lutz Gaedicke, der Stein immer wieder eine Herausforderung gewesen: Wie kann man die Figur aus dem Block heraustreten lassen und sie zugleich im Quader wie in einer inneren Mauer belassen? Gaedickes Figuren haben etwas Schweres, (Be-)Lastendes, in den Stauchungen und Deformationen der Körperformen, in ihren Drehungen und Verrenkungen. Im „Großen hockenden Paar“ (1974, Kalkstein) sollte nach des Künstlers eigener Aussage „das Individuelle der einzelnen Figur erhalten bleiben“. Anatomische Übersteigerungen wie überhaupt das Noch-nicht-Fertige, Improvisation, Spontaneität, Gestisches und Prozesshaftes kommen hier zusammen. Dabei wird bei Gaedicke Abstraktion nie so weit getrieben, dass dadurch die materialbedingte Gestalt ihren Naturgrund verliert. Aus der lastenden Schwere des Vorgegebenen haut er ein Formgefüge in seiner Singularität heraus. Die Eigentümlichkeit des Materials verschwindet nicht, sondern wird ein mitgestaltendes Element des Werkes. So entstehen auch Torsi voll inneren Lebens, beredte Fragmente im Sinne einer höheren Ganzheit.
In der Boxergruppe „Konfrontation“ (1982/83, Bronze) rücken zwei Figurenblöcke aufeinander, der Angreifer, eine ungeschlachte Kampfmaschine, den nächsten Schlag vorbereitend, und der Angegriffene, bereits vom vorangegangenen fürchterlichen Schlag gezeichnet und nicht mehr zum Widerstand fähig. Noch ganz im Block eingebunden dagegen die ruhende Gestalt eines jungen Mädchens, „Elise – Ein Tagtraum“ (1985–87, Sandstein, Marmor), die der Betrachter von allen vier Seiten assoziativ zusammenzusetzen hat. Ein Schwebezustand scheint hier eingefangen zu sein, ein nach innen gerichtetes Wach-Sein.
Das Porträt Pförtner Kops vom Pariser Platz (1979, Bronze, auch Terrakotta), noch aus der Meisterschülerzeit bei Wieland Förster, erhält durch die scharfe, überdeutliche Modellierung eine ungeheuer sprechende Physiognomie. Dann wiederum ein schreitender weiblicher Akt in geometrischer Segmentierung ganz Vertikale. „Hommage à Michelangelo“ (1974/75, Sandstein), eine Körperlichkeit, optisch gebrochen in einer höchst modernen Sensibilität. Der Körper bäumt sich auf, triumphiert über Vergänglichkeit. Von einer mehr statischen, statuarischen Form gewannen Gaedickes Skulpturen etwas sehr lebhaft Bewegtes dazu. Seine Liegenden, Denkenden, Stehenden, Schreitenden, Aufstrebenden, seine Paare und Porträts haben die Synthese zwischen strömender Plastizität und figurativer Bändigung gefunden.
Seit dem Herbst 1989 hatte Gaedicke keine Muße mehr, in Stein zu arbeiten. Er erweiterte seine Materialsprache und baute nun Objekte und Assemblagen aus Verpackungsmaterialien (Styropor). Er musste das ihn Beunruhigende, Bedrängende, das sich in ihm angestaut hatte, abarbeiten, und das konnte er am ehesten mit den trivialen Relikten der neuen Konsum- und Wegwerfgesellschaft, die uns bis in die Wohnung zu ersticken drohten. „Diese Dinge schreien mich überall an.“ Auf die Brüche der Wirklichkeit wollte er mit Materialien reagieren, die auf der Straße liegen. „Wi‹e›derstand“ hatte er damals eine Ausstellung bezeichnet, in der Polarität des Widerständigen wie des Wiederaufstehens als künstlerische Haltung, auch dem Material gegenüber, denn auch das Material widersteht bestimmten Aktionen. Thematische und formale Strukturen liegen mitunter schon im Material der trivialen Warenproduktion, dann wieder füllte er diese Raumgebilde mit dramatischem Inhalt – Sinnbilder für Abhängigkeiten und Bindungen, Wirkliches und Surreales. Denn die Bauelemente und Baugruppen, Röhren und Transistoren, Drähte und Metallbänder, der Vogelkadaver, der am Fenstergitter verendet ist, die Spielzeugkuh auf der Wiese, unter der sich die verlassene Machtzentrale befindet, die aus Draht und unschmelzbarem Festkörper geformte Muppet-Figur, das ganze Inventar von Alltäglichem und Alptraumhaftem sollten beim Betrachter ganz unterschiedliche Assoziationen hervorrufen, abhängig davon, wie er an den Prozessen vor und nach der Wende teilgenommen hatte, wie er nun mit der Vergangenheit umging, sie aufarbeitete oder einfach verdrängte. Versatzstücke einer bedrängenden Wirklichkeit wurden zu neuen Bildwelten zusammengefügt. König Ubu, die Perversion moralischer Kategorien als Zerstörung einer Wirklichkeitsillusion, wird als Aushöhlungsprozess einer vorgegebenen Form vorgeführt: So wie das 1896 aufgeführte Ubu-Stück Alfred Jarrys bleibt auch Gaedickes Deutung dieses Popanzes offen, ist auf Fortsetzung, vielleicht sogar Wiederholung – in welcher Form auch immer – angelegt.
Wenn der Künstler dann auch wieder zu Stein, Bronze und Metall zurückgekehrt ist, sollte diese Phase seines Schaffens nicht vergessen werden. Denn er rückte an die Stelle des nicht wiederholbaren Kunstwerkes den Akt der Provokation mit seiner Tendenz zu Beliebigkeit und Austauschbarkeit. Zeitungs- und Fernsehberichte, Comics und Werbung, das dauernde Zirkulieren von suggestiven Bildern, die uns bis in die Träume hinein verfolgen, legten ein Erzählen nahe, in dessen Technik selbst schon wieder die Konzepte der Manipulation, der boshaften Nachahmung und des Recycling vorhanden sind. Gaedicke hat damals auf Prozesse aufmerksam gemacht, die wir nicht aus unserem Bewusstsein ausblenden sollten.
Das Städtische Museum Eisenhüttenstadt zeigt jetzt ausgewählte Werke in Stein und Bronze, Drucke und Zeichnungen des 2012 verstorbenen Künstlers aus dem Bestand der Stiftung Private Künstlernachlässe, die auch das Bestands- und Werkverzeichnis von Gaedicke bearbeitet hat. Die Ausstellung wird begleitet von einer Wanderausstellung „Sichtbares Erbe – Geteiltes Erbe“ der Stiftung Private Künstlernachlässe im Land Brandenburg e. V., die seit 10 Jahren eine aufwändige Arbeit zur Erfassung der Künstlernachlässe betreibt und damit einen verdienstvollen Beitrag für die Kultur- und Kunstgeschichte des Landes Brandenburg leistet. Seit 2014 werden Nachlass- und Werkverzeichnisse erarbeitet und in einer Datenbank für jeden abrufbar gespeichert. Künstler wie Nachlasshalter erhalten Unterstützung in der Erfassung, Bewahrung, Vermittlung und Veröffentlichung des künstlerischen Werkes. Ein öffentliches „Kernbestandsdepot“ soll einmal auf Bundeslandebene entstehen. Die Stiftung steht im Austausch mit den Museen für bildende Kunst, mit Galerien und privaten Sammlern.
Diese Doppelausstellung geht von 2019 bis 2024 in die Landkreise und kreisfreien Städte des Landes Brandenburg und hat jetzt im Städtischen Museum Eisenhüttenstadt Station gemacht.
Claus-Lutz Gaedicke. Vom Umgang mit dem Erbe. Arbeitsstand. Eine Wanderausstellung der Künstlernachlässe e. V., Städtisches Museum Eisenhüttenstadt, Ortsteil Fürstenberg (Oder), Löwenstraße 4, Di–Fr 10–16 Uhr, 1. und 3. Sa im Monat 13–17 Uhr, bis 27. Juni.
Schlagwörter: Bildhauer, Claus-Lutz Gaedicke, Klaus Hammer, Museum Eisenhüttenstadt