24. Jahrgang | Nummer 9 | 26. April 2021

Morgenstern in Birkenwerder

von Manfred Orlick

Christian Morgenstern (1871–1914), der Verfasser der humoristischen Klassiker „Galgenlieder“ oder „Palmström“, verbrachte den Winter 1905/06 in einem Sanatorium in Birkenwerder nördlich von Berlin. 1893 war der Dichter an Tuberkulose erkrankt, die ihn zeit seines Lebens immer wieder zu Kuraufenthalten zwang – zumeist an der Nordsee oder im Gebirge. 1905 fiel seine Wahl auf das neu gegründete Sanatorium in Bad (wie sich der Ort damals nennen durfte) Birkenwerder, weil er von hier aus Berlin mit der Vorortbahn schnell erreichen konnte.

Zum 150. Geburtstag des Dichters beleuchtet der Schriftsteller Roland Lampe den Aufenthalt in Birkenwerder näher und geht den vielfältigen Spuren nach, die diese Zeit in Morgensterns Leben und Werk hinterließ. Die acht Monate von Anfang November 1905 bis Mitte Juni 1906 waren wichtige, wenn nicht sogar entscheidende Monate für den damals 35-Jährigen. Im März 1905 waren seine „Galgenlieder“ erschienen, die auf eine überwiegend positive Resonanz stießen. Da Morgenstern als Schriftsteller, Redakteur und Herausgeber von Honoraren lebte, musste er seine Kuraufenthalte aus eigener Tasche bezahlen, was ihm oft schwerfiel. So war er in Birkenwerder erstaunlich produktiv. Er vollendete den Gedichtband „Melancholie“, gab die Gedichte von Walther von der Vogelweide heraus und verfasste Kindergedichte und immer wieder neue Galgenlieder.

Von Birkenwerder aus konnte Morgenstern nicht nur seinen Verleger Bruno Cassirer sondern auch Freunde in Berlin treffen. Selbst Theateraufführungen konnte er dort besuchen, zum Beispiel des Moskauer Künstlertheaters, das im Februar und März 1906 in Berlin gastierte. Vermutlich hat Morgenstern diese Theaterbesuche mit Besuchen bei Freunden und Bekannten verbunden. Zugleich führte er von Birkenwerder aus auch eine umfangreiche Korrespondenz mit Schriftstellerkollegen und seinem Freundeskreis.

Morgenstern, der ein leidenschaftlicher Spaziergänger war, formulierte bei seinen Streifzügen im Kurpark oder in der näheren Umgebung nicht nur Briefe im Kopf, auch Gedichte („Nebelweben“, „Neuschnee“ oder „Du schlankes Reh“), Aphorismen und andere Texte entstanden auf diese Art und Weise.

Häufig litt der empfindsame Morgenstern in Birkenwerder unter Einsamkeit; da kam ihm die Bekanntschaft mit einer russischen Jüdin aus Moskau und ihren beiden Töchtern gerade recht. Zu der vierzehnjährigen Sinaida entwickelte sich sogar eine heimliche Liebe. In seinem Novellenfragment „Unter Rehen“ (1906) hat er das junge Mädchen ausführlich und liebevoll beschrieben hat.

In Birkenwerder vertiefte sich Morgenstern in die Schriften des thüringischen Theologen Meister Eckhart (1260–1328) sowie des deutschen Philosophen und Mystikers Jakob Böhme (1575–1624). Mit dem Johannes-Evangelium beschäftigte er sich ebenfalls intensiv. Das war der Beginn seiner Hinwendung zur Mystik. Diese Auseinandersetzung hielt er im „Tagebuch eines Mystikers“ fest, dessen Sinnsprüche, Aphorismen, Notizen und Verse allerdings erst im Jahre 1918 in dem Band „Stufen“ veröffentlicht wurden.

Morgensterns Wandlung in Birkenwerder war die Vorstufe zu dem, was 1908/09 erfolgte, als er sich zur Anthroposophie von Rudolf Steiner bekannte. Dieser Schritt, den er selbst als „Lebenswende“ bezeichnete, hatte viel mit seiner Beziehung zu Margareta Gosebruch von Liechtenstern zu tun, einer überzeugten Anthroposophin, die er im Sommer 1908 in Tirol kennenlernte und 1910 heiratete.

Mit vielen Zitaten (Gedichten, Briefauszügen, Tagebuchnotizen) dokumentiert Lampe die einzelnen Aspekte von Morgensterns Aufenthalt in Birkenwerder, ergänzt durch zahlreiche historische Dokumente und Abbildungen. Kurz dargelegt und mit aktuellen Fotos belegt, wird auch die weitere Geschichte der damaligen Gebäude in Birkenwerder. So ist das ehemalige Sanatorium heute eine Asklepios-Klinik.

Im Abschlusskapitel „Zirkus Morgenstern“ listet der Autor unter andere meinige Morgenstern-Namensgebungen rings um Berlin auf. So existiert seit 2018 eine Christian-Morgenstern-Gesellschaft in Werder (Havel), die zum 150. Geburtstag des Dichters am 6. Mai 2021 ein zweitägiges Fest mit einer wissenschaftlichen Konferenz geplant hatte, das wie andere Sonderveranstaltungen nun auf 2022 verschoben wurde.

Am 6. Mai (17 Uhr) soll wird es im Rathaus von Birkenwerder eine Buchpremiere mit Roland Lampe geben – per Livestream.

Roland Lampe: Der Wald verwandelt sich in Traum – Christian Morgenstern in Birkenwerder, Findling Verlag, Werneuchen 2021, 96 Seiten, 10,00 Euro.