wärst du doch wenigstens ewig für eine Minute
Ernesto Cardenal
Ausgewaschene Nacht.
Der Morgen eine Marionette
des Mondes. Krummschnäbliges Lied
im Rhythmus der Schritte. Wir tasten
uns entlang an den Versprechungen
gesunkener Schiffe, an der Flurwand
eines Genueser Hotels, Buchstaben
eines fremden Alphabets. Geboren
im Zeichen des Kreises, wandern wir
auf den Spuren eines Märchens mit
Frau. Rudern von einem Jahrtausend
ins nächste. Ein Funkensprühen ist
unsere Ekliptik, ein Feuerregen,
der zwischen Wellen verebbt. Palast
und Ruine: In beiden waren wir
einander zugetan – und fern. Vergessene
Fontäne im Atrium, Sandale mit Schaum-
Krone am Strand. Eine Bohrinsel brennt
im Reich der Schneekönigin. Liebe
ist Arbeit. Rettungsboote schwärmen
aus. Wir sitzen in jedem. Unser Haar
wird die Algen umarmen. Ich glaubte,
es wäre die heilige Zeit: Mutter
meine, statt Muttergottes. Unter
Masken über unseren Masken
hoffen wir auf ein Vakzin gegen
die Gier. Europa jubelt: Frei kommt
ein Pott im Suezkanal. Was bringst du
mir mit, Kapitän? Die Kinder vermögen
so viel, kleine Bergleute sind das,
Näher und Färber. Guten Morgen,
du Schöne aus Kurdistan, deine Haare
sind Samt wie deine Haut. Deine Augen
glänzen wie dein Maschinengewehr. Heute
und morgen wird dein Land noch gebraucht
als Truppenübungsplatz für verfeindete
Herrscher. Comandante, zwischen zwei
Angriffen wirst du gebären, wie deine
Schwester zwischen klatschnassen Zelten
im Schlamm der hellenischen Insel.
Die Karawane zieht weiter auf der neuen
Seidenstraße. In Kabul regiert der Präsident
von Kabul, Kamerad, doch auch das ist nicht
sicher. Drohnen folgten mir von Rammstein
bis Bagdad. Helikopter nahmen mich mit
ins Visier, nur ein Gelächter entfernt. Ohne
Chelsea hätten wir es niemals erfahren
(Einen Tag nach meinem Sohn kam sie
zur Welt und brachte uns die Flötentöne
bei). ICH möchte ich noch einmal sagen,
damit es ein DU geben wird im ewigen
Gedächtnis, den Träger eines weißen
Kleides, der von der Schulter fällt wie
auf einem schäbigen Plattencover. ICH
will ich singen, wie der Diamant,
unter dem das Vinyl sich gleichmäßig
dreht. ICH, weil ich auf einen Anfang
warte und auf ein Ende, die es beide
nicht gibt. Nur gesunkene Schiffe und
verbranntes Haar an den Felsen. Daraus
bauen schreiende Vögel ihr Nest. Eine
Magnetkarte öffnet die Tür im Hotel,
hinter der ich verschwinden werde
bei Nichts und Niemand wie diese
ausgewaschene Nacht in Paris
vor dem letzten Tag
der Commune.
März 2021
Schlagwörter: Erneste Cardenal, Henry-Martin Klemt, Nachtgedanken