Der Markt macht nicht die Kunst, aber der Markt macht den Künstler. Manchmal auch die Künstlerin. Das ist aber seltener. Christoph Stölzl, der einmal meinte, Leistung setze sich immer durch und deshalb brauche man keine Künstlerinnenförderung, irrt sich da gewaltig. Der 1932 in Dresden geborene Gerhard Richter hat sich durchgesetzt. Er hat sich im Westen durchgesetzt und den Ostbestandteil der eigenen Biographie abgehackt. Aber das ist ein anderes Thema. Er wurde gleichsam zum Kurienkardinal der Kunst des Westens, hochbezahlt und immer von Bücklingen umzingelt. Und ich gebe es zu: Das Signum „höchst bezahlter Maler“ von was weiß ich nicht wo macht die unbefangene Begegnung mit dem Werk eines Künstlers nicht leichter. Die Mitte zwischen äffischem Bestaunen und rabiater Ablehnung zu finden und zu halten ist nicht leicht. In der Kunstgeschichte ist Richter nicht der erste, dem dies widerfuhr.
Und er ist auch nicht der erste, den die eigene Biographie einholte, dem die Ascheberge der Geschichte irgendwann beim Atmen so zusetzten, dass sie das Werk zu prägen begannen. 1965 malte er das Porträt seiner „Tante Marianne“. Marianne Schönfelder starb am 16. Februar 1945 in der Heilanstalt Großschweidnitz. Sie wurde Opfer des Euthanasieprogramms der Nazis. „Tante Marianne“ ist das erste Gemälde, mit dem ein deutscher Maler den Opfern des T4-Programms wieder ein Gesicht gab. Ebenfalls 1965 entstand das Bild „Herr Heyde“, das den Moment der Verhaftung des T4-Obergutachters Werner Heyde festhält, der immerhin bis 1959 ungehindert als Psychiater praktizieren durfte. 1965 ging in Wilhelmshaven der Gynäkologe und SS-Obersturmbannführer Heinrich Heufinger ungeschoren in die Pensionierung – bis 1956 praktizierte er nach offensichtlich auf sowjetischen Druck erfolgter Einstellung eines Ermittlungsverfahrens gegen ihn auch in der DDR unbehelligt. Heufinger war aktiv an den Zwangssterilisierungen im Rahmen der „Euthanasie“ beteiligt – und wurde Richters erster Schwiegervater. Zu den 1965er-Bildern gehört auch „Onkel Rudi“, ein SS-Offizier offensichtlich vor einer Ghetto-Mauer – mich erinnert der Ort sehr an den Warschauer „Umschlagplatz“ nach Treblinka – posierend abgebildet. Diese Gemälde sind fast fotorealistisch auf die Leinwand gebracht. Alle monochrom, aber alle sind durch die Richtersche Verwischungstechnik ins Unscharfe verfremdet worden. Es scheint, als habe der Künstler eine tiefsitzende Scheu gehabt, das eigentlich Undenkbare abbildend im Endeeffekt zu verharmlosen. Nichts kann so überzeugend lügen, wie ein gut gemaltes Bild. Die Auftraggeber von Historienbildern wissen das.
2014 malte der Künstler einen „Birkenau“-Zyklus, bestehend aus vier großformatigen Gemälden. Derzeit sind sie in der Alten Nationalgalerie auf der Berliner Museumsinsel zu sehen. Sie sind gleichsam die Vorboten für die Präsentation von mehr als 100 Richter-Werken, die die GERHARD RICHTER KUNSTSTIFTUNG der Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin für das „Museum des 20. Jahrhunderts“ am Kulturforum im Tiergarten zur Verfügung stellt. Dort soll es einen separaten Gerhard-Richter-Raum geben. Immerhin ist es hier kein Privatsammler, der durch seine Leihgaben Druck auf das Museum ausübt. Hier entscheidet der Künstler selbst über sein Werk – und das darf als abgeschlossen gelten.
Gerhard Richters „Birkenau“ hängt im dritten Obergeschoss des Museums im Zentrum des Besucherrundgangs. Den vier Bildern genau vis-à-vis eine Installation aus vier großen Spiegeln, bestehend aus mit Emaille beschichtetem Floadglas. Die gab der Sonderausstellung den Titel. „Reflexionen über Malerei“. Mehr an Reflexion ist nicht. Vier Bilder, ihnen gegenüber vier Spiegel. Man könnte den Ausstellungstitel wörtlich nehmen, dann erfolgte im Ergebnis eine Ästhetisierung des Sujets, die nicht hinnehmbar wäre. Allerdings hängen in den vier Ecken des Raumes vier Schwarz-Weiß-Fotografien in – so erscheint es zunächst – einer miserablen Bildqualität. Aber das sind keine künstlerisch verfremdeten Aufnahmen. Es handelt sich um einige der ganz wenigen Originalfotos, die das Grauen in Auschwitz-Birkenau dokumentieren. 1944 von einem Häftling des „Sonderkommandos“ der Gaskammern offenbar aus einer der Türen des Gebäudes heimlich aufgenommen, zeigen sie die letzten Minuten des Lebens zur Vernichtung bestimmter Frauen sowie das Kommando selbst beim Verbrennen der Leichen auf offenem Feuer. Zu einem bestimmten Zeitpunkt reichte die Kapazität der Krematorien nicht mehr aus …
Unvorstellbar, das Unvorstellbare darzustellen. Richter hat nach diesen Fotografien gemalt, die Bilder dann zerkratzt und zerschabt, neue Farbschichten aufgetragen, diese dann wieder verworfen und demselben Ritual unterworfen. Das Unfassbare ist nicht fassbar. Am Schluss des Arbeitsprozesses stehen vier Formate, auf denen ein dahingewischtes und zerflossenes Grau dominiert. In der Folge gewinnen die Bilder etwas an Farbigkeit. Sie werden mitnichten auch nur im Ansatz gegenständlich. Da ist auch keine Abstraktion von irgendetwas. Es ist diese verwischte Aschefläche, auf denen schrittweise Rot und ein dunkles Smaragdgrün aus dem Tiefengrund zum Vorschein kommen. Ingeborg Ruthe schreibt in der Berliner Zeitung von „winzigen Hoffnungsspuren“. Nein, Hoffnung ist das nicht.
Diese Bilder verweigern sich jeder rationalen Interpretation. Man muss sich zwingen, vor ihnen zu verharren. Beim Versuch sich abzuwenden, wird man von den – im Format wesentlich kleineren! – Fotografien geradezu angesogen. Dann zieht es einen wieder vor die Gemälde, man sucht die Wiedererkennung des soeben Geschauten. Das ist sinnlos. Hanno Rautenberg bemerkte 2016 in DIE ZEIT zum „Birkenau“-Zyklus, dass Richter „nichts eingefangen, nicht ausgedrückt“ habe. „Seine Bilder sind offen, jeder darf und soll in ihnen sehen, was er will.“ Eigentlich eine banale Aussage. Dennoch brennen sie sich gerade durch ihre Nichtgreifbarkeit ein. Rautenberg endet seine Überlegungen mit einem Verdikt. Durch diese scheinbare Offenheit der Interpretation werde „Birkenau zu dem, was es nie war und nie werden sollte: zum Mythos.“ Nein, wird es nicht. Es kommt auf die Kontextualisierung der Hängung an.
Ich halte es für eine glückliche Findung, dass der „Birkenau“-Zyklus in der Nationalgalerie mitten zwischen der Malerei der deutschen Romantik und des Biedermeiers hängt. Die tiefen Wurzeln des unfassbaren Geschehens der Shoah sind in dieser Epoche zu finden.
Reflexionen über Malerei. Gerhard Richters „Birkenau“-Zyklus in der Alten Nationalgalerie, Museumsinsel Berlin, bis 3. Oktober 2021 Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr, donnerstags bis 20.00 Uhr; Zeitfensterticket im Internet.
Schlagwörter: Birkenau, Gerhard Richter, Nationalgalerie, Wolfgang Brauer