24. Jahrgang | Nummer 7 | 29. März 2021

Die Journalistin Milena Jesenská

von Mathias Iven

Als Willy Haas 1952 ihre Briefe an Kafka veröffentlichte, konnte wohl kaum jemand etwas mit ihrem Namen anfangen. Sie war Kafkas Briefpartnerin, seine Freundin im Geiste. Und ja, sie war auch die erste Übersetzerin eines seiner Werke in eine fremde Sprache. Im Mai 1920 hatte Kafka sie seinem Freund Max Brod mit nur wenigen Worten beschrieben: „Sie ist ein lebendiges Feuer, wie ich es noch nie gesehen habe […].“ Nach Kafkas Tod schrieb sie über ihn: „Er war als Mensch und Künstler von so ängstlichem Gewissen, dass er auch da etwas vernahm, wo andere taub waren und sich sicher wähnten.“

Näheres erfuhr man über die am 10. August 1896 in Prag geborene Milena Jesenská erst ein Jahrzehnt später. Margarete Buber-Neumann, die Jesenská im KZ Ravensbrück kennengelernt und bis zu ihrem Tod begleitet hatte, legte 1963 die erste größere biographische Arbeit über sie vor. 1984 folgte der von Dorothea Rein herausgegebene Band „Alles ist Leben“, eine Zusammenstellung von 41 Artikeln, die Jesenská zwischen 1919 und 1939 veröffentlicht hatte. Im Verhältnis zum Gesamtwerk – das wissen wir heute – ein verschwindend kleiner Anteil. Denn durch die unermüdliche Kleinarbeit der Literaturwissenschaftlerin Marie Jirásková konnten bisher insgesamt 1164 Feuilletons, Reportagen und Übersetzungen nachgewiesen werden.

Rechtzeitig zum 125. Geburtstag von Milena Jesenská liegt jetzt ein neuer Auswahlband mit 79 ihrer Texte vor. Herausgegeben hat ihn die deutsch-tschechische Publizistin und Schriftstellerin Alena Wagnerová, selbst Autorin einer Jesenská-Biographie. Es ist durchaus berechtigt, so Wagnerová in ihrem Vorwort, „von der journalistischen Arbeit Milena Jesenskás als einem Werk zu sprechen, das in Kontinuität von klarer Haltung und Zuwendung zu Welt- und Menschheitsgeschehen und mit Solidaritätsgefühl entstanden ist“.

Diese klare Haltung und Zuwendung, den unbestechlichen Blick einer an den Tatsachen interessierten Journalistin fand man bereits in Jesenskás ersten Artikeln. Seit 1918 lebte sie mit ihrem ersten Mann, Ernst Pollak, in Wien und hatte ein Auge darauf, was in der vom Ersten Weltkrieg in Mitleidenschaft gezogenen Stadt geschah. Sie schrieb für die tschechische Tageszeitung Tribuna, und sie schrieb vor allem über die Dinge, die ihre Kollegen, wenn überhaupt, nur am Rande erwähnten.

Schon in ihrem ersten, am 30. Dezember 1919 veröffentlichten Feuilleton erklärte sie ohne Umschweife: „Wien liegt in den letzten Zügen seines Ruhmes“. Und nicht nur das: „Am schlechtesten jedoch geht es hier uns, uns Tschechen.“ Jesenská schrieb über die von der amerikanischen Regierung organisierte Kinderhilfsaktion und sie beobachtete die in „zwei schreckliche Arten“ geteilte Jugend: „Die eine sitzt im Kaffeehaus, die andere macht Geschäfte.“ Apropos Kaffeehäuser. Das waren zu dieser Zeit nicht nur die Treffpunkte der Literaten und Journalisten, nicht nur die „Versammlungsorte des geistigen Lebens und der Bohème“. Dort wurde nicht nur geschrieben, korrigiert und diskutiert. „Im Kaffeehaus wird gelebt, gefaulenzt, die Zeit totgeschlagen.“

Zu Beginn des Jahres 1923 wechselte Milena Jesenská zur Redaktion von Národní listy, der bedeutendsten tschechischen Tageszeitung. Immer wieder blickte sie in den kommenden Jahren auf ihre deutschen Mitbürger, die in ihren Augen, gestraft vom „Fluch vortrefflicher Eigenschaften“, nicht zu leben verstanden. „Die schlimmsten Menschen sind die perfekten und korrekten. Ich kenne keinen schlimmeren Typus Mensch als die Deutschen, da haben wir Perfektion und Korrektheit in Person vor uns. Korrekte Menschen haben oft sogar einen komplizierten seelischen Apparat zum Quälen anderer.“ Und als sie im Rahmen der Internationalen Werkbund-Ausstellung die 1927 errichtete, richtungsweisend für die Moderne gewordene Weißenhofsiedlung in Stuttgart besuchte, schrieb sie darüber: „Den Deutschen fehlt jede Beziehung zu den Freuden des Lebens, jeder Sinn für die Qualität von Dingen, und gegenüber den Reizen der Welt sind sie ganz einfach taub.“

Im Frühjahr 1929 wechselte Jesenská zu der 1893 in Brünn gegründeten Tageszeitung Lidové noviny, doch bereits im Sommer 1930 wurde sie wegen Unstimmigkeiten in ihrer Arbeit wieder entlassen. In der Folgezeit lebte sie von Übersetzungen und schrieb für verschiedene Zeitungen. So für Tvorba, wo es in einem von ihr nach der Machtübernahme der Nazis veröffentlichten Artikel hieß: „Ist die faschistische Diktatur eine kämpferische Verteidigung des Kapitals, so ist die proletarische Diktatur eine Verteidigung der sozialistischen Demokratie, die an ihrem Ende stehen wird, und daher ist sie auch die einzig mögliche Verteidigung der Arbeiter, und die machen die Mehrheit des Volkes aus.“

Mit ihren ab Herbst 1937 für die Wochenzeitschrift Přítomnost geschriebenen „politischen Reportagen erreichte sie“, urteilt Alena Wagnerová, „zweifellos den Höhepunkt ihrer eigenen journalistischen Arbeit, aber auch der tschechischen und der europäischen Journalistik dieser Zeit“. Eines der von Jesenská in den Blick genommenen Themen waren die aus Deutschland Geflohenen, die Emigranten, die „Gestrandeten“, die vor allem durch ein Gefühl Verbundenen: „Beim Wort Hakenkreuz schnüren uns dieselben Empfindungen das Herz ab.“ Mit Artikeln wie „Sag mir, wohin du flüchtest – und ich sage dir, wer du bist“ oder „ … sein Glück anderswo suchen?“ versuchte sie, vor allem auf die psychologische Komponente dieser Ausnahmesituation aufmerksam zu machen. Sie kennzeichnete die Emigration als einen „seelische[n] Zustand, der darin besteht, dass man ständig zurückschaut“. Und so sei denn Flucht auch kein Ausweg. „Wir sind eine Nation. Und müssen es bleiben. Jeder, der weggeht, nimmt ein Stück Scholle und etwas Wurzelwerk mit sich. […] Du gehst weg – und an deine Stelle setzt sich ein anderer. Also bleibe, halte stand und geh nicht. Wache über deinen Platz und verteidige ihn!“ – Geschrieben wurden diese Sätze im April 1939, einen Monat nach der Besetzung der sogenannten „Resttschechei“.

Als Ferdinand Peroutka, der Chefredakteur von Přítomnost, von den Deutschen festgenommen und nach Buchenwald deportiert wurde, übernahm Milena Jesenská die Leitung der Zeitschrift bis zu ihrem Verbot Ende August 1939. Nicht einmal drei Monate später wurde sie selbst verhaftet. Obwohl man ihr im Verlaufe des gegen sie geführten Hochverratsprozesses nichts beweisen konnte, überstellte man Jesenská Ende Oktober 1940 ins KZ Ravensbrück, wo sie am 17. Mai 1944 verstarb.

Wenn man dieses Buch zuschlägt, ist man beeindruckt und traurig zugleich – beeindruckt von dem unerschütterlichen Glauben an die Macht des Wortes und traurig, weil man schon am Ende ist und doch noch mehr von Jesenskás Texten lesen möchte.

Milena Jesenská: Prager Hinterhöfe im Frühling. Feuilletons und Reportagen 1919–1939, herausgegeben von Alena Wagnerová, aus dem Tschechischen von Kristina Kallert, Wallstein Verlag, Göttingen 2020, 416 Seiten, 32,00 Euro.