24. Jahrgang | Nummer 7 | 29. März 2021

Bismarcks russische Liebe

von Detlef Jena

Die reale Politik des Westens ist gegenüber Russland bei aller berechtigten Kritik wieder einmal hoffnungslos verkrampft. Dieser Zustand wiederholt sich seit dem Mittelalter in regelmäßigen Abständen. Selbst eine vage Erwähnung der Ausgleichspolitik Bismarcks, der den autokratischen inneren und äußeren Gewalttaten der Romanow-Dynastie mit kühl berechnetem Eigennutz und europäischem Format begegnete, kann heute zum hasserfüllten Aufschrei und zum Vorwurf eines Verrats an den Menschenrechten führen. Apropos Bismarck: Der konnte den wahren Charakter der zarischen Autokratie in ihrem historisch begründeten Drang nach Unterdrückung, Aggressivität und orthodoxer Starre messerscharf charakterisieren.

Der eiserne Kanzler erzählte im Kreise verantwortungsbewusster preußischer Politiker gerne, warum in Russland die Uhren anders als in Preußen gehen: Als er Gesandter in Petersburg war, traf er bei einem Spaziergang in einem Park auf Kaiser Alexander II. Sie gingen gemeinsam weiter und stießen an einer völlig unauffälligen Stelle auf einen Wachsoldaten. Selbst der allmächtige Zar wusste nicht, warum gerade dort eine Wache stand. Die Szene wiederholte sich einige Zeit später. Alexander II. war diese Mal vorbereitet. Er hatte offenbar im Generalstab Erkundigungen eingezogen und konnte Bismarck freudestrahlend mitteilten: 100 Jahre zuvor hatte Katharina II. justament an dieser Stelle eine schöne Blume gesehen, möglicherweise eine ukrainische Sonnenblume. Ein Wachsoldat wurde zum Schutz der zarten Pflanze eben an diesen Platz befohlen. Der Befehl ist niemals aufgehoben worden – weil er von der großen Katharina kam! Bismarck krittelte gut preußisch, 100 Jahre wären doch eine sehr lange Zeit und das Blümlein längst verwelkt. Kaiser Alexander entgegnete lakonisch: „Sicher, für Preußen schon, aber doch nicht für Russland.” Dort gingen die Uhren eben anders.

1862 berief König Wilhelm I. Bismarck von Sankt Petersburg nach Paris. Noch mit der Sehnsucht nach den Weißen Nächten an der Newa im Kopf, verbrachte Bismarck im Sommer einige Tage im mondänen Badeort Biarritz, im Hôtel d’Europe. Dort begegnete er Nikolai Orlow, den russischen Botschafter in Belgien, der durch seine zahlreichen Verwundungen aus dem Krimkrieg etwas an früherer Attraktivität eingebüßt hatte.

Orlow frischte dennoch Bismarcks Sympathien für die russische Seele sofort wieder auf, zumal der Ambassadeur von seiner 22-jährigen Gemahlin, einer kultivierten und gebildeten Schönheit aus der Familie der Fürsten Trubetzkoi begleitet wurde. Da in Preußen die Uhren bekanntlich anders gingen als in Russland, verliebte sich der verheiratete Bismarck Hals über Kopf in die pikante Orlowa.

Die Turteltauben vergaßen die im Westen grassierende bösartige Russophobie ebenso wie die am Petersburger Hof verbreitete Ironie gegenüber dem Provinzialismus der deutschen Kleinstaaterei und sogar den erst kürzlich im Krimkrieg vom Westen Einhalt gebotenen russischen Drang nach Süden, auf den Balkan. Die Liebe strahlte so rein und klar, dass der 47-jährige Bismarck an die daheim gebliebene Ehefrau Johanna schrieb: „Hinter mit Heidekraut bewachsenen Felsen verborgen vor den Blicken der Leute, blicke ich aufs Meer, das grün und weiß von Schaum und Sonne ist; bei mir die köstlichste aller Frauen, die dir sehr gefallen wird, wenn du sie erst näher kennenlernst.“ Er fand die Orlowa: „…originell, fröhlich, klug und freundlich, hübsch und jung.“

Johanna lächelte gelassen und abgeklärt. Ihr Otto besaß ja so manche Schwäche und hatte es auch schon garstig getrieben. Aber eine wirkliche Affäre, die der Gemahlin schaden konnte, hatte es nie gegeben. Außerdem war die Orlowa viel zu zielstrebig und nicht bereit, den sicheren Platz an der Seite ihres Mannes aufzugeben, eines Mannes, der ebenfalls ohne Unruhe zuschaute, wie der doch schon etwas ältere Preußen eifrig balzte. Und wenn die beiden baden gingen, dann waren die damaligen Bademoden einer körperlichen Annäherung eher hinderlich im Wege.

Orlow amüsierte sich, dass Bismarck nicht verstand, warum ihn die reizende Katharina heiter-ironisch „Onkelchen“ nannte. Der schien alle politischen Grundsätze über Bord zu werfen und schrieb an Johanna: „Ich habe die Politik vollständig vergessen und lese keine Zeitungen mehr. Wie sehr hoffe ich, dass man mich weiterhin nicht nach Berlin abrufen wird!“

Doch wie Goethe es schon erkannt hatte: „Des Menschen Glück, es ist ein eitler Traum.“ Diesen Wunsch konnte ihm sein König nicht erfüllen. In Preußen schwelte eine Verfassungskrise. Katharina mochte den Liebhaber noch so geschickt an der Nase herumführen, ihre Jugend und Schönheit hatte aus dem Schönhäuser Otto einen Romeo wachsen lassen. Doch daheim war das Vaterland in Gefahr und der politisch reife Bismarck wurde jäh aus seiner rosa-russischen Wolke verstoßen.

Die folgenden Jahrzehnte boten hinreichend Gelegenheit, mit russischen Politikern die Klingen zu kreuzen. Und der Kanzler des Reichs führte eine scharfe Klinge. Aber bis zum Tode bewahrte er im Zigarrenetui ein Olivenbaumzweiglein und in der Brusttasche einen Achatanhänger auf. Geschenke Katharinas aus Biarritz, die der Kanzler des Deutschen Reichs mit ins Grab nahm, nachdem es ihm auf der politischen Bühne gelungen war, eine ernsthafte Konfrontation mit dem Russischen Reich zu verhindern. Doch: Wie konnte er nur so voller sentimentaler Naivität sein! Der Mann musste weg! Kaiser Wilhelm II. stürzte den Kanzler. Der Kaiser, der Geibels patriotische Worte von 1861, nach denen die Welt am deutschen Wesen genesen mochte, in der greisen Einsamkeit des Genies in grobe Welteroberungsphantasien umdeutete und emsig am kommenden globalen Krieg bastelte – auch gegen das autokratische Russland. Doch bis dahin nannte er den Cousin auf dem Zarenthron zärtlich seinen lieben Nicki. Es hatte schon seine Berechtigung, dass Goethe sich einst Gedanken darüber machte, „wie die Grossen mit den Menschen, und die Götter mit den Grossen spielen“. Jedermann kann es in seinen Briefen aus dem Jahre 1778 nachlesen. Moment! Damals ging es doch um einen drohenden Krieg zwischen Preußen und Österreich. Das war doch nur ein „Zwetschkenrummel“ um die bayrische Erbfolge. Da stand doch nicht der Russe vor den deutschen Toren. Nein, Katharina setzte gerade an, Voltaires Herzenswunsch zu erfüllen und sich in Konstantinopel die Krone einer „Griechischen Kaiserin“ aufzusetzen. Daraus wurde bekanntlich nichts. Die große Katharina in Petersburg konnte derweil doch tatsächlich mäßigend auf die Kampfhähne in Wien und Berlin einwirken.