24. Jahrgang | Nummer 5 | 1. März 2021

Politische Freiheit und der 1. Mai

von Rosa Luxemburg

Am 5. März jährt sich der Geburtstag Rosa Luxemburgs zum 150. Male.

Der folgende kurze Text gehört zu ihren über 50 frühen Arbeiten, die sie in Polnisch vom Sommer 1893 bis Sommer 1896 für die monatsweise erscheinende Zeitung Sprawa Robotnicza (Arbeitersache) schrieb. Der Text erschien in der Februarausgabe 1894, war mit R. K. gezeichnet, einer Abkürzung, die Rosa Luxemburg in jener Zeit öfter verwendete. Die Zeitung wurde in Zürich redigiert, in Paris gesetzt und gedruckt, anschließend illegal zu den polnischen Industriearbeitern im Zarenreich geschmuggelt. In Sprawa Robotnicza wurde die politische Revolution im Zarenreich frühzeitig antizipiert, weil unter den gegebenen Bedingungen nur mit dem revolutionären Sturz der Zarenherrschaft politische Freiheit durchzusetzen war. Politische Freiheit aber wurde als unabdingbare Voraussetzung begriffen, um den Arbeiterkampf gegen die kapitalistische Ausbeutung in den großen Industriezentren im Russischen Reich und so auch in dessen polnischem Teil erfolgreich führen zu können.

In ihren frühen Texten bildete Rosa Luxemburg bereits jene Momente kräftig aus, die ihr gesamtes spätere Schaffen unverkennbar prägten. An ihrer Seite standen damals in Zürich und Paris Leo Jogiches, Julian Marchlewski und Adolf Warski.

Gleich am Anfang haben die polnischen Arbeiter am 1. Mai neben der Achtstundenarbeit ihre zweite Forderung aufgestellt – die politische Freiheit!

Ohne politische Freiheit, ohne Streikrecht, Vereins- und Versammlungsrecht, ohne eine Einflussnahme auf die Regierung – entfällt für uns der wichtigste Vorteil des Achtstundenarbeitstags. Die Losung der Achtstundenarbeit bedeutet die Begrenzung der Ausbeutung. Wir müssen eine weitere Losung hinzusetzen: Die Freiheit des Kampfes gegen die Ausbeutung!

Sobald das Arbeitsvolk beschließt, sich aus der Knechtschaft der Zarenregierung zu befreien, ist das Todesurteil für die Unfreiheit gefällt. Deren Tage sind gezählt. Das Volk wird sich von keinem Mittel mehr aufhalten lassen, mit seinem Blut wird es nicht geizen, um die Freiheit zu erringen. So haben einst die ausländischen Arbeiter gekämpft – so werden nun auch wir kämpfen.

Doch noch hat die letzte Stunde nicht geschlagen. Heute gilt noch nicht, sich mit Militär und Polizei zu schlagen. Heute ist der Maifeiertag unser Kampf gegen die Regierung.

Denn könnten wir uns mit dem Feind messen, ohne unsere Kräfte zu kennen? Zuerst müssen wir unsere Reihen zählen, fragen: Wie viele Arbeiter gibt es, die die Freiheit herbeisehnen? Das wird der Maifeiertag zeigen! Dann werden wir sehen, wer zum Appell erschienen ist für die Achtstundenarbeit und die politische Freiheit. Wenn der Tag kommt, an dem wir hören: in Warschau – feiern alle, in Łódź – alle, in Dąbrów – alle, in Żyrardów – alle!, dann wird dieser 1. Mai der letzte Tag unserer Unfreiheit sein. Heute feiern wir aber und zählen unsere Reihen.

Jeder 1. Mai nähert uns jenem Augenblick, mit jedem Jahr muss sich die Zahl derjenigen vergrößern, die feiern und die Freiheit herbeisehnen.

Der Arbeiter, der am 1. Mai zur Arbeit geht und auf die feiernden Kameraden trifft, fragt verwundert: Warum arbeitet ihr nicht am Werktag? Dann antworten wir ihm: Wir feiern, weil wir Achtstundenarbeit und politische Freiheit wollen – schließ dich an! Und der neue Genosse kehrt nach einem Moment der Unentschlossenheit um, schließt sich uns an. So werden unsere Reihen wachsen.

Zugleich wird die Kraft unseres Feindes abnehmen. Bereits zweimal hat die Regierung uns am 1. Mai angegriffen, wollte uns niederschlagen mit Peitsche und Kugel. Am 1. Mai wird der despotische Zar fragen: Und, herrscht Ruhe auf polnischem Gebiet? Dann werden seine Minister und Generäle angstvoll antworten: Nein, Eure Majestät, die polnischen Arbeiter sind nicht unterwürfig, haben sich nicht beruhigt. In diesem Jahr sind es doppelt so viel, die da feiern. Zweimal so viel fordern nun Achtstundenarbeit und politische Freiheit! Der despotische Zar neigt verwundert den Kopf und sagt: Weh mir. Nichts hilft mehr – weder die Peitsche noch die Kugeln. Geschwind, machen wir den Arbeitern Zugeständnisse, vielleicht beruhigen sie sich dann.

Die Regierung wird also nachgeben. Doch wir werden uns nicht beruhigen, wir hören nicht auf, zu feiern – solange nicht, bis wir genügend Kraft verspüren, um zum offenen Kampf überzugehen, zur letzten Schlacht für die Freiheit. Doch jetzt gilt:

Feiern wir den 1. Mai und zählen wir unsere Kräfte.

Feiern wir den 1. Mai und vergrößern wir unsere Reihen.

Feiern wir den 1. Mai und zwingen wir die Regierung zu Zugeständnissen.

Heute ist der 1. Mai unsere mächtigste Waffe für die politische Freiheit.

Polnischer Arbeiter – gib diese Waffe nicht aus der Hand!

(Aus dem Polnischen übersetzt und eingeleitet von Holger Politt.)