24. Jahrgang | Nummer 4 | 15. Februar 2021

Neue Seidenstraßen

von Attila Kiraly

In Anlehnung an das berühmte „Lange Telegramm“ George Kennans von 1946/47 hat das Scowcroft-Center des Atlantic Council (Washington D.C.) gerade ein neues „Langes Telegramm“ publiziert: „Zu einer neuen amerikanischen China-Strategie“. Einer der Unterpunkte ist überschrieben mit: „Politische Erklärungen sind noch keine Strategie“. Plädiert wird für eine langfristige USA-Strategie gegen China, in deren Mittelpunkt der Technologie-Krieg stehen soll, am Ende läuft es aber wieder auf die Erneuerung militärischer Stärke der USA hinaus.

Einer der zentralen Punkte der westlichen Feindbild-Produktion ist die chinesische Initiative „One Belt, One Road“ zur Schaffung einer „Neuen Seidenstraße“, die von China auf dem eurasischen Kontinent bis zum Atlantik reicht und Ausweitungen nach Afrika und Lateinamerika hat. Im Westen wird das als besonders perfide Methode zur Errichtung einer neuen imperialen Machtstruktur von globalem Ausmaß interpretiert. China wird zum „systemischen Herausforderer“ erklärt, weil dort eine Staatsbürokratie mit dem Selbstverständnis der Kommunistischen Partei herrscht. Praktisch ist es aber so, dass nicht China den Kommunismus in Kalifornien einführen will, sondern der Westen seine politische Ordnung in China, und dafür Hongkong, Taiwan sowie die Themen Uiguren und Tibet zu benutzen trachtet. Dabei wird die Seidenstraße immer mehr in den Fokus gerückt.

Der Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph Rainer Land lieferte kürzlich eine gründlich andere Interpretation der Seidenstraßen-Initiative. Das chinesische Entwicklungsmodell der 1990er und 2000er Jahre, nach den Reformen Deng Xiaopings, war außerordentlich erfolgreich. Es beruhte auf der Kombination fortgeschrittener westlicher Technologie, die durch ausländische Investoren in Joint-Ventures und Sonderwirtschaftszonen eingeführt wurde, mit niedrigen chinesischen Löhnen, einem riesigen Arbeitskräftereservoir und einem gewaltigen potenziellen Markt. Der musste beim Steigen chinesischer Einkommen zum Tragen kommen. Exportüberschüsse waren eine notwendige Bedingung einer solchen wirtschaftlichen Entwicklung, der Export von Massenprodukten war Voraussetzung für ausländische Direktinvestitionen und für den Import der nötigen Rohstoffe und Produktionsmittel. China wurde Werkstatt der Welt. Das ermöglichte eine erfolgreiche nachholende Industrialisierung, den Aufbau moderner Unternehmen, die Implementation moderner Managementmethoden, die Schaffung vieler Millionen moderner Arbeitsplätze, den Strukturwandel zu einer Industriegesellschaft, die Modernisierung der Landwirtschaft und den Aufbau moderner vergesellschafteter Sozialsysteme anstelle von Volkskommunen und betriebszentrierter Absicherung.

Die Grenzen dieses Entwicklungsmodells wurden 2010 erreicht. Mit steigenden chinesischen Löhnen schwanden die Kostenvorteile auf den Weltmärkten und die Aufnahmekapazität des Weltmarktes für chinesische Massenprodukte wurde erreicht. Nach der Weltfinanzkrise (2007–2009) konnte die Verschuldung US-amerikanischer Privathaushalte durch Konsumentenkredite nicht mehr wachsen wie vorher, die Nachfrage auf den Weltmärkten stagnierte zunächst. Nach Einschätzungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) wären bei einer Fortschreibung der chinesischen Export-Wachstumsraten in kürzester Zeit Gütermengen erreicht worden, die nur noch im Rahmen eines mittels Preis geführten Verdrängungswettbewerbs auf dem Weltmarkt hätten platziert werden können. Dies allerdings wäre für die chinesischen Exporteure nur durch Inkaufnahme von kaufmännischen Verlusten möglich und für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung kontraproduktiv gewesen. Eine lineare Fortsetzung des vorherigen Entwicklungsprozesses war ausgeschlossen. China lief Gefahr, im sogenannten Middle-Income-Trap steckenzubleiben.

Diese „Falle“ entsteht, wenn nachholende Entwicklung durch Kombination fortgeschrittener Technologie mit niedrigen Löhnen nicht mehr möglich ist, weil die Lohnstückkostendifferenzen geringer geworden sind, aber das technologische Niveau und die Qualität der Produktion nicht ausreichen, um den entwickelten Industriestaaten im High-Tech-Bereich Konkurrenz zu machen. Die Führung der KP Chinas suchte dafür einen Ausweg. Drei Ziele wurden bestimmt: (1) Das Übernehmen der technologischen Führung auf mehreren Gebieten, so bei Hochgeschwindigkeitszügen, Elektrofahrzeugen und im Bereich Erneuerbarer Energien, verbunden mit der Orientierung auf Qualitätsprodukte, die die Massenproduktion nicht vollständig ersetzen, aber substanziell erweitern. (2) Ökologische Modernisierung, Aufbau einer sozialistischen Ökozivilisation, um die dramatischen Umweltschäden, die Folgen der schnellen Entwicklung der exportorientierten Massenproduktion zu beseitigen und ein neues Innovationsfeld für nachhaltige Entwicklung zu gewinnen. (3) Die außenwirtschaftliche Orientierung und die Öffnung zu den Weltmärkten sollen nicht aufgegeben, aber inhaltlich neu ausgerichtet werden, und zwar durch die Seidenstraßen-Initiative.

Die Initiative zielt auf den Aufbau neuer globaler Infrastruktur und die darauf gegründete Entstehung neuer internationaler industrieller Cluster, auf globale Kooperation mit chinesischer Beteiligung. Sie soll eine weitere dynamische Entwicklung ermöglichen. Die Massenproduktion für westliche Konsumgütermärkte soll schrittweise durch globale Entwicklungskooperation ersetzt werden. China will die eigene Erfahrung, dass Infrastrukturinvestitionen die wirtschaftliche Entwicklung insgesamt dynamisieren, in globalen Projekten zur Geltung bringen. Das geschieht nicht uneigennützig. Es geht um die außenwirtschaftlichen Voraussetzungen eines im Umbruch befindlichen neuen chinesischen Entwicklungspfades. Aber diese Strategie hat Vorteile auch für die Kooperationspartner. Denn während der massenhafte Export billiger Konsumgüter in den Zielländern Märkte besetzt und nachholende Industrieentwicklung anderswo eher behindert oder blockiert, werden durch eine infrastrukturorientierte globale Strategie neue Entwicklungsräume und potenzielle neue Märkte geschaffen. Diese Strategie läuft auf eine Win-Win-Konstellation hinaus.

Das alles ist nachzulesen in der aktuellen Ausgabe von Berliner Debatte Initial (Heft 4/2020), das die Seidenstraßen-Initiative zum Schwerpunkt hat. Weitere Beiträge erörtern strategische Fragen des Platzes Chinas in der Welt, beschreiben das Wirken der Seidenstraßen-Initiative im Nahen und Mittleren Osten sowie in Lateinamerika, die chinesischen Direktinvestitionen sowie die Rolle der „Auslandschinesen“. Der Europa-Abgeordnete Helmut Scholz und Norbert Hagemann verweisen darauf, dass die EU vor der Entscheidung steht, ob sie sich in der von Konfrontation gekennzeichneten geowirtschaftlichen und geopolitischen Konstellation gegen China von den USA vereinnahmen lassen oder global eigenständiger agieren will. Dann sollte sie die Möglichkeiten, die sich mit der Seidenstraßen-Initiative bieten, aufgreifen und mit China kooperieren.