24. Jahrgang | Nummer 3 | 1. Februar 2021

Worpsweder Phantasia

von Wolfgang Brauer

Vor mir liegt ein Buch mit dem merkwürdigen Titel: „The Book of Humi“. Das erinnert an das legendäre mittelalterliche „Book of Kells“ und klingt ein wenig anmaßend. Ist es aber nicht. Bernd Küster, profunder Kenner der Kunstlandschaft zwischen Ems und Unterelbe, hat unter diesem Titel im Donat Verlag eine bemerkenswerte Monografie über den Zeichner und Poeten Pit Morell vorgelegt. Morell ist Jahrgang 1939. Er lebt und arbeitet in Worpswede und dürfte momentan der letzte „Worpsweder“ sein, der ein dort entstandenes, ästhetisch und inhaltlich stimmiges Gesamtwerk vorlegen kann. Seinen 80. Geburtstag hatte das „Weltdorf“, wie sich der Ort strotzend vor Bescheidenheit gerne nennen läßt, vergessen. Zu Beginn dieses Jahres sollte nun die überfällige Jubiläumsschau stattfinden. Die Galerie Altes Rathaus Worpswede plante, die Ausstellung bis zum 7. Februar 2021 zu zeigen. Das fiese Welt-Virus durchkreuzte das bislang. Vielleicht klappt eine Verlängerung.

Pit Morell stammt aus Kassel. Als Kind musste er miterleben, wie die Stadt im Oktober 1943 von 500 alliierten Flugzeugen in einem fünfstündigen Bombardement in Schutt und Asche gelegt wurde. So etwas wirkt bis ins hohe Alter nach und bedient sicherlich in den Tiefen des Unterbewusstseins die Sehnsucht nach einer dem eigenen kreativen Willen unterworfenen Phantasiewelt. HUMI ist ein solches Phantasieland, „das schemenhaft der Wirklichkeit gleicht, doch in seiner Konsistenz und Formenvielfalt eher deren Zerrbild ähnelt“ (Küster). HUMI bestimmt das Werk des Zeichners und Poeten Pit Morell spätestens seit Ende der 1960er Jahre. Sein Phantasia ist aber auch das Dorf der Kindheitsjahre Hümme („Humi“) bei Kassel nach dem Krieg, mithin die Landschaft der durchlebten Traumata. Aber: „HUMI ist überall“.

Nach Worpswede spült den Künstler der Zufall. Die nostalgische Verzückung zwischen Moorbirken und Torfkanälen war es sicher nicht, eher die Sehnsucht nach einem ruhigen, kunstfreundlichen Schaffensort. Dass es ihn im Alter dann genau in das Zentrum des Worpsweder Kunst-und Kaffee-Betriebes spülte, mutet da fast schon wie ein böser Scherz des Witzboldes Apoll an. Die Modersohn-Vogeler-Moor-Landschaft taucht auf Morells Blättern jedoch meist nur mittelbar auf.

Wie auch immer, 1964 zieht Morell mit seiner Familie nach Worpswede, „wo die Stimme des Vergangenen immer noch nachhallte“, wie Bernd Küster die damalige Atmosphäre des Ortes sehr freundlich umschreibt. Hier kann er seine Kunst leben, von den diversen – auch das Dorf im Teufelsmoor ergreifenden – kunst- und kulturpolitischen Auseinandersetzungen hält er sich fern. Wichtig ist ihm die Nähe zu Galeristen wie Klaus Pinkus („Die Insel“), der 1971 „HUMI’s Welt“, eine Mappe mit zehn Farbradierungen, immerhin in einer 50er-Auflage veröffentlicht. Wichtig ist ihm die Nähe zu Horst Janssen, der aus Hamburg regelmäßig herüberkommt. Wichtig werden für ihn die 1960er mit Pop Art und der Wiederentdeckung des Surrealismus. Natürlich René Magritte, natürlich Max Ernst – und Richard Oelze, den die Worpsweder verprügelten und vergraulten. Heute gibt es im Ort einen Richard-Oelze-Ring.

Bernd Küster bettet den Weg Pit Morells in dieses künstlerische Umfeld ein. Das ist schwierig, Morells Kunst ist ein ausgesprochenes Solitär. Küster schreibt kenntnisreich und einfühlsam, aber in Teilen durchaus kritisch, hier sei nur auf das ambivalente Problem Horst Janssen hingewiesen und die braunen Flecken auf der Worpsweder Weste, die bis in die heutige Zeit immer wieder mal aufscheinen. Im vergangenen Jahr musste eine kleine Ausstellung mit religiösen Arbeiten Carl Emil Uphoffs noch vor der Eröffnung abgeblasen werden. Nicht wegen Corona, Uphoffs NS-Vergangenheit ist bis heute nicht aufgearbeitet. Natürlich war die auch den Ausstellern bekannt … 1972 prägte Morell bei einer Lesung für Radio Bremen den Satz: „Unter dem Schirm der Gleichgültigkeit ertragen wir den Erguss von Lügen“.

Das liest sich gesellschaftskritisch. Aber Morell hält in dieser Frage eher Distanz. Er sieht sich als Beobachter. Er erzählt Geschichten über die menschliche Wirklichkeit, gekleidet in Metaphern. Seine Fabulierlust ist enorm, sie kommt aber in Bildern daher, für deren Entschlüsselung der Betrachter sich viel Zeit nehmen muss. Es ist keine verlorene Zeit. „HUMI ist die kosmische Bühne, auf der sich das große Karussell der Formen zu drehen beginnt und eine stete Neugeburt der Welt – und der menschlichen Kreatur – aus dem Schoß der Phantasie betreibt“ (Küster).

Der Autor blättert ein beeindruckendes Œuvre auf: Zeichnungen (vom Kleinformat bis zu großen 100 x 170 cm messenden Blättern) bevorzugt mit Farbstiften gefertigt, Druckgrafik (Kaltnadelradierungen und zauberhafte Aquatinten, die gelegentlich an Alfred Kubins magische Blätter erinnern) – und ausgesprochen sympathisch finde ich, dass Bernd Küster Morells Gedichte ernst nimmt. Sie fallen aus der häufig mit Brachialgewalt verrätselten bundesdeutschen Verkopfungslyrik der Mitte des 20. Jahrhunderts auf angenehme Weise heraus: „Wer kennt nicht das Gefühl beim Anblick / eines Regenbogens / dieses immer wiederkehrenden sanft / leuchtenden Zeichens der Verheißung …“ (Der Mensch). Diese Texte sind ebenso präzise gearbeitet wie die Zeichnungen. Da ist übrigens Worpswede intensiver greifbar als in den Zeichungen. Schade, dass Morell seit vielen Jahren keine Gedichte mehr veröffentlicht.

Und was ist nun mit dem „Book of Humi“? Eigentlich existiert es nicht als abgeschlossenes Werk. Es handelt sich streng genommen um eine Folge von inzwischen 85 fertig gestellten Künstlerbüchern mit jeweils bis zu 250 Zeichnungen pro Band. Bernd Küster schätzt das Gesamtvolumen aller darin enthaltenen Arbeiten auf 10.000 bis 15.000 Einzelblätter. Ein in der deutschen Kunstgeschichte singuläres Werk. Küster ermöglicht uns einen kleinen Einblick in das darin verhandelte „gelobte Land HUMI, in dem alles, was er [Pit Morell – W.B.] erlebt, was er gesehen und erfahren hat, zu großer Kunst aufgehoben liegt“.

Faszinierend.

Bernd Küster: THE BOOK OF HUMI. Leben und Werk des Zeichners und Poeten Pit Morell, Donat Verlag, Bremen 2020, 216 Seiten, 29,80 Euro.