Immer wieder zu Weihnachten werden viele Menschen sentimental, sie verkriechen sich in finsteren Ecken und lassen bei harten Drogen oder schlechtem Burgunder ihr Leben an sich vorbei rauschen. Oft kommt dann am Ende nur ein kräftiges, allerdings unverständliches, Lallen heraus. Der Partner weiß auch nicht mehr weiter, wirft mit Ausdrücken nur so um sich, die Kinder flennen, weil wieder keine Konsole unter dem Baum auf sie wartet, und die Großeltern sind erst gar nicht gekommen.
Tja, und gerade die haben vor unendlich langer Zeit, zu Zeiten der Mangelwirtschaft, der Kuba-Apfelsinen und der Westpakete, manch schönes Weihnachtsfest ausgerichtet. Ach, wie war es doch schön, wenn man im bösen Westen, im kapitalistisch verseuchten Unrechtsstaat, Verwandtschaft sitzen hatte, die einem zur Weihnachtszeit mit großen Paketen oder kleineren Päckchen die Zeit versüßte. Die geflügelten Jahresendfiguren waren aufgereiht, die frühkapitalistischen landwirtschaftlichen Kleinstgebäude mit Vieh und Mensch standen an Ort und Stelle und auf dem Tisch kam kräftiges Essen. Es gab dicke Würstchen mit selbstgemachtem Kartoffelsalat und Senf aus der Nachbarrepublik CSSR. Wer Zeit und Nerven hatte, stellte sich im Vorfeld im Konsum oder in der HO nach Orangen an, ließ sich Stollen aus Dresden mitbringen und besorgte sich auf verschlungenen Wegen Bier aus Radebeul und ordentlichen Kräuterlikör aus Neudietendorf. Doch die Pakete aus dem goldenen Westen waren eindeutig die wichtigsten Geschenkelemente.
Irgendwann im Vorfeld der ganzen Feiertage trudelten sie ein. Man bekam zunächst einen Zettel, auf dem stand, wo die begehrten, hoffentlich gut gefüllten, Kartons abgeholt werden mussten. Meist griff sich die Post einen Nachbarn, der sich um die ganzen Pakete kümmerte, sie annahm und am Abend an die Empfänger aushändigte. Die Post schaffte es nämlich mit dem Austragen und Verteilen nicht mehr. Ein Elternteil holte die Pakete und versteckte sie ganz tief in den Kleiderschränken, der andere Teil versuchte die Kinder abzulenken, was nur selten gelang. Nach weihnachtlichen Pioniernachmittagen oder letzten Stunden bei der Arbeitsgemeinschaft hatten wir genügend Zeit, die immer gleichen Verstecke auszukundschaften und den Inhalt der Pakete zu begutachten. Ach, was war das immer für eine Freude, welch herrlicher verwirrender Geruch nach Seife und Kaffee, nach Nüssen und Schokolade. Alles schön eingepackt in buntes Papier, das später sorgfältig geglättet wurde, manche bügelten es sogar – zur Weiterverwendung.
Erste Ernüchterung machte sich dann beim genaueren Durchforsten breit: Wieder keine Schallplatten dabei, auch keine Micky-Maus-Hefte und leider auch keine abgelegten Bravo-Hefte, deren Poster gerade nach Weihnachten hoch gehandelt wurden. Die Schwester sah auf den ersten Blick, dass die mitgeschickten Feinstrumpfhosen nicht passen würden und die Bluse ziemlich mistig war, sie sah so aus, wie von der Tante abgelegt. Irgendwann lag auch mal eine große Packung KiteKat bei, die nach Nichts roch und uns ziemlich komisch vorkam, denn eine Katze hatten wir nun wirklich nicht. Und außerdem, wieso bekommen die Katzen Lebensmittel zugeschickt. Das fest eingepackte Zeugs entpuppte sich dann als Schokoriegel, der nach Pappe schmeckte und eine Schallplatte von Udo Lindenberg (welcher Ostdeutsche wollte ihn nicht) oder Deep Purple nicht ersetzen konnte. Und was war das überhaupt für eine komische Marke, die nur „Ja“ hieß, einen hässlichen Einband in blau und weiß besaß und ansonsten querbeet Lebensmittel barg? Hier machten wir uns schon so unsere Gedanken: Gab es in der BRD etwa auch Lebensmittel, die „Nein“ genannt wurden? Und hieß das Zeugs nur „Ja“, weil es zum Essen frei geben war? Oder wollten uns Onkel und Tante einfach mitteilen: „Ja, dieses Westpaket ist nur für euch da im Osten“.
Manchmal lag eine Jeans im Paket, die ziemlich ausgewaschen und getragen aussah und keinem von uns Geschwistern passte. Mutti nahm sich dann weit nach Weihnachten vor, diese Jeans zu einer Tasche umzuarbeiten. Leider besitze ich bis heute solch ein tolles Teil nicht, denn die Hose passte schließlich doch irgendeinem doofen Cousin. In ganz guten Jahren lag für mich ein kleines Metallauto bei und für die große Schwester eine komische dünne Puppe, die keine Geschlechtsteile besaß und auch ansonsten nicht wie ein immer bereiter FDJler oder Pionier aussah. Außerdem spielte die Schwester sowieso Fußball oder versteckte sich im Park mit den Jungs aus der Klasse.
Und dann kam die Wende und mit ihr verschwanden die Westpakete. Erste Gänge der Ostdeutschen durch die Einkaufstempel des Westens und Besuche bei den lieben Verwandten ließen die schönen Erinnerungen an die weihnachtliche Zeit zusammenschrumpfen. Das alberne „Ja“ auf Schokolade, Kaffee und Suppenpulver entpuppte sich als eine Billigmarke und eine erneute Verkostung ließ die Zunge zucken und den Magen verkrampfen. Schließlich erfuhr der einstmals Beschenkte auch noch, dass die Jeans vom Tantes Nachbarskind stammten und die Strumpfhosen wohl nur in der mitgeschickten Größe verdammt billig waren. Und schließlich die Krönung, nein nicht von Jacobs, sondern des Ganzen: Die Pakete konnten sogar von der Steuer abgesetzt werden.
Die von uns verschickten Bildbände, Bücher und die erzgebirgische Volkskunst waren das Vielfache der geschickten Pakete wert!
Doch die Erinnerungen an die Westpakete bleiben natürlich.
Wie der sich später einstellende schale Geschmack daran.
Schlagwörter: Thomas Behlert, Westpakete