24. Jahrgang | Nummer 3 | 1. Februar 2021

Vom Kerker zum Paradies?

von Manfred Weißbecker

Als Sechsundzwanzigjähriger traf Eberhard Koebel – bekannt auch unter seinem bündischen Namen „tusk“ – mit dem Eintritt in die KPD eine sein Leben völlig verändernde Entscheidung. Sie kann als Hintergrund eines nur wenige Zeilen umfassenden Gedichts gesehen werden, das er 1931 schrieb und „Unglück vor mir, Unglück nach mir“ titelte; Hannes Wader vertonte es 1995 für sein Album „Zehn Lieder“. Einige Zeilen des Textes klingen anrührend, bezeugen Überwundenes sowie Erwartungsvolles: „Meine Sonne neigt sich gnädig / über mein Gesicht und lacht / Denn ich hab aus einem Kerker / mir ein Paradies gemacht […] Gestern bin ich stark gewesen, / morgen werd ich’s wieder sein.“ Koebel hatte offensichtlich gespürt, wie in den frühen Jahren der großen Weltwirtschaftskrise Anderes als bislang Gewohntes und völlig Neues ihn verändern würde. Tatsächlich markierte er mit diesem Lied eine Zäsur seines Lebens und Wirkens.

Dessen Text findet der Leser auf S. 210 des hier vorzustellenden Buches, das glücklicherweise sowohl Biografie als auch Dokumentation genannt werden darf. Dank seiner nahezu quadratischen Form und der übersichtlichen Gestaltung kann zumeist beides wahrgenommen werden, gleichsam die reale Geschichte einerseits und deren Deutung andererseits. Zu den Quellen gehören auch ausführlich zitierte Urteile von Weggefährten und Historikern. Alles kann so direkt in Augenschein genommen werden. Dem Rezensenten ermöglicht es, dies mit eigenem Wissen und Erfahrungen zu verknüpfen, und er sieht sich angeregt zu naheliegenden Fragen oder weiterführenden Überlegungen. Ihm geriet das Lesen zu geistigem Vergnügen und zwang zu einem im besten Sinne des Wortes nachdenklich forschenden Schmökern. Fast könnte dies als ein stiller Dialog mit dem Autor zu seinen Intentionen und Wertungen verstanden werden, zumal der einen spannungsvollen Bogen über das „Unglückliche“ im Leben Koebels zu ziehen vermag, dem zitierten Gedicht hingegen kaum Aufmerksamkeit widmet.

Eckard Holler, ein pensionierter Gymnasiallehrer, legt einen ausführlichen, mitunter direkt detailverliebten Überblick über alle Lebensstationen eines Mannes vor, der eine der schillerndsten Gestalten bündischer Jugend – so Sabine Kebir in junge welt – war und als legendärer deutscher Jugendführer gilt. In mehr als 40 Abschnitten beschreibt er den Werdegang des 1907 in einer reichen Stuttgarter Familie geborenen und 1955 in Berlin gestorbenen Mannes, den zwar viele Zeitgenossen kannten und über den sehr unterschiedlich Stellung bezogen worden ist, der jedoch bald in Vergessenheit geriet. Holler informiert über Koebels ornithologische Interessen und Leistungen, mehr noch über die teils abenteuerlichen „Selbstfindungs“-Fahrten in den Norden Europas, in deren Ergebnis „tusk“ zeitgemäße Mittel naturverbundener Jugendarbeit in die deutsche Bewegung des Wandervogels einbrachte: ein neues, nach oben offenes Zelt (die Kohte) sowie eine robuste und dennoch formschöne Jugendjacke mit drei Riegeln (Juja). Damit grenzte er sich vom Militär ab, jedoch ohne sich autoritärer Führungsmethoden entledigen zu wollen.

Ausführlich wird dargestellt, wie Koebel als Mitglied der „Deutschen Freischar“ – sie knüpfte in der ungeliebten Weimarer Republik an die Traditionen des Wandervogels aus der Vorkriegszeit an und suchte nach einer Zusammenführung zum Teil heillos zerstrittener bündischer Jugend – neue Wege beschritt. Jugendliche sollten nicht länger nur „angepasste Wiederholende“ sein, sondern durch Bildung und praktische Tätigkeit „Selbsterringende“ sein. Er öffnete seine Schar sogar für Juden und Mädchen, wollte engstirnigen Nationalismus überwinden und näherte sich, offen für die wachsende soziale Not jener, mit denen er in Berlin in Verbindung stand, proletarischen, insbesondere kommunistischen Organisationen an. Da dies in der „Freischar“ nicht auf Gegenliebe stieß und zugleich seinen Wunsch zu Fall brachte, deren Bundesjungenschaftsführer zu werden, schuf er noch innerhalb der „Deutschen Freischar“ am 1. November 1929 eine eigene Gruppe in der bürgerlichen Jugendbewegung, auffällig bezeichnet als „dj.1.11.“ Rasch erfolgte sein Ausschluss. Es hieß, er sei ein „ein schwäbischer Wirrkopf“ und ein „Verräter“.

Seine Gruppe erfasste rund 2000 „gekeilte“, also elitär ausgewählte Jugendliche, sollte aber nach seiner völlig illusionären Vorstellung Ausgangspunkt einer Sammlung nicht allein der bündischen Jugend (ca. 50.000 bis 60.000), sondern nach und nach der gesamten (!) deutschen Jugend sein, natürlich mit ihm als Jugendführer. Er selbst trat 1931 in die KPD ein, was er am 20. April 1932 offiziell verkündete. Diesen für sein weiteres Leben entscheidende Schritt vollzog er unter dem Eindruck einiger Gespräche mit führenden Kommunisten, darunter mit Alfred Kurella, gewiss auch in Kenntnis der „Programmerklärung zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes“ vom 24. August 1930. Vor allem aber folgte er dem Beispiel des Reichswehroffiziers Richard Scheringer – Holler erwähnt allerdings nicht den ebenso spektakulären Eintritt des evangelischen Pfarrers Erwin Eckert in die KPD. In bündischer Symbolik gefragt: Suchte Eberhard Koebel statt blauer Blume nun die rote Nelke?

Koebels ehrgeiziges, sich selbst maßlos erhöhende Selbstbild mag wohl dazu beigetragen haben, dass er 1933 Kontakt mit dem Faschisten Baldur von Schirach suchte und über eine Aufnahme seiner Schar in die Hitler-Jugend verhandeln wollte – erfolglos, wie auch sein Antrag, in NSDAP und SS aufgenommen zu werden. Dieses schreckliche Sichanbiedern hatte nichts zu tun mit dem zeitweilig von Kommunisten unternommenen Versuch, als „Trojanisches Pferd“ in nationalsozialistischen Organisationen zu wirken. Bald sah er darin selbst seinen größten Fehler und nahm, nach Verhaftung und Emigration, eindeutige antifaschistische Positionen ein. Im Jugendwiderstand spielte er noch eine gewisse Rolle, keinesfalls jedoch war er, wie in einer Grabrede formuliert wurde, die „zentrale Gestalt des Jugendwiderstandes gegen Hitler“. Nach 1945 scheiterten seine Bemühungen, mit Hilfe Erich Honeckers eine führende Stellung in der „Freien Deutschen Jugend“ einzunehmen. Allerdings wollte er, die Trennung von Ehefrau und Söhnen in Kauf nehmend und sich gegen den Ausschluss aus der SED wehrend, die DDR nicht verlassen. Konsequent erklärte er, Kommunist zu sein und zu bleiben. Nach Holler sah er im „Kommunistsein“ das Ziel seiner großen Irr- und Umwege. Das spricht gegen die These von Michael Buddrus, Koebel sei ein Zweckmäßigkeitskommunist gewesen. Als 2013 bündische Jugendbewegte auf dem Hohen Meißner zur Erinnerung an die Gestalter des Wandervogels früherer Zeiten erinnerte, wurde Geschichtsvergessenheit demonstriert: Koebels Name, einst gepriesen, tauchte kein einziges Mal auf.

„Stark“, wie von ihm 1931 prophezeit, ist er nie geworden, eher schwächer als zuvor. Eine andere Zeile des Gedichts traf hingegen sein egomanes Selbstverständnis: „Wo ich bin, ist Glück“. Doch aus solch einem Kerker konnte es keinen Weg in ein wie auch immer geartetes Paradies geben. In seinem Nachwort bekennt Holler, seine Bewunderung für „tusk“ sei der Ausgangspunkt des biografischen Bemühens gewesen. Dies habe jedoch im Laufe der Arbeit „etliche Kratzer“ erhalten. Als solche bezeichnet er Koebels autokratischen Führungsstil, seinen „Militärfimmel“ und den „Zickzackkurs“ in Grundsatzfragen. Zudem habe er den Eindruck hinterlassen, in mancher Hinsicht größenwahnsinnig gewesen zu sein. Gelegentlich hatte er einem Freund versprochen, falls er Reichskanzler werde, ihn als Reichspräsidenten an seine Seite zu holen. Zuletzt soll er sich in einen Verfolgungswahn gesteigert haben. Es mag angesichts der Vielzahl seiner literarischen Publikationen vielleicht die wohlgemeinte Vermutung zutreffen, geäußert von Karl Otto Paetel, Koebel sei im Kern ein musisch-künstlerischer Mensch gewesen, der sich irrtümlich für einen Politiker hielt.

Eckard Holler: Auf der Suche nach der Blauen Blume. Die großen Umwege des legendären Jugendführers Eberhard Koebel (tusk). Eine Biografie, LIT Verlag Dr. W. Hopf, Berlin 2020, 320 Seiten, 29,90 Euro.

Manfred Weißbecker ist Historiker und lehrte bis 1992 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er ist Spezialist für deutsche Parteiengeschichte, insbesondere auch für die Geschichte der NSDAP.