Die Vielzahl der Publikationen zu Russland ist kaum zu überschauen. Im Vordergrund stehen zwei Grundfragen: Was sind die Folgen des Untergangs der Sowjetunion? Was macht das heutige Russland aus, welche Ziele verfolgt es? Versuchen einige Autoren, die mit dem Zerfall des sowjetischenImperiums verbundenen Probleme zu analysieren, so überwiegt bei anderen offensichtlich die Tendenz, Russland und insbesondere dem seit 20 Jahren als Präsident und zeitweise als Premier amtierenden Wladimir Putin aggressives Verhalten anzulasten. Dabei wird oft negiert, dass das sowjetische Imperium im Grunde von einem Tag auf den anderen auseinander fiel, ohne dass damit verbundene Fragen noch geregelt werden konnten. Millionen Russen befanden sich plötzlich im Ausland, also in neu entstandenen souveränen Staaten, territoriale Fragen, die mit willkürlichen innersowjetischen Grenzziehungen verbunden waren, blieben offen. Das betraf nicht nur die Krim, die Chrustschow 1954 aus der Russischen Sowjetrepublik aus- und der Ukrainischen Sowjetrepublik angliederte, sondern auch Abchasien, Berg-Karabach, Südossetien, Transnistrien, die heute in Gestalt „eingefrorener Konflikte“ fortwirken. Nach den Turbulenzen der 1990er Jahre wurde Russland stabilisiert und spielt auf internationaler Bühne eine aktive Rolle.
Martin Aust, Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Bonn, möchte mit seinem Buch einen Beitrag zur Diskussion „über Russland und Imperien“ leisten, und das angesichts einer enormen Spaltung und emotionalen Aufladung des medial-politischen Russlandbildes in Deutschland. Während hier ein Lager für die Neuausrichtung der deutschen Politik in Osteuropa und gegenüber Moskau eintrete, Russland als Gegner identifiziere und seine Eindämmung fordere, setze sich das andere, ausgehend von Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen, für Verständigung und Dialog ein. Dabei ist für den Autor die Frage des Imperiums Ausgangspunkt für das Verständnis des heutigen Russlands. Die Russische Föderation agiere in einem postimperialen Raum, der vorher über Jahrhunderte vom zaristischen beziehungsweise sowjetischen Imperium beherrscht wurde. Im Unterschied zu den Imperien Großbritanniens, Frankreichs oder Deutschlands sei der Untergang der Sowjetunion relativ unblutig verlaufen. Zugleich wirke ihr Erbe weiter: die frühere wirtschaftliche Arbeitsteilung hinterließ ihre Spuren, wie auch die ethnische Vermischung im Vielvölkerreich. Diese Erfahrungen zeigten sich heute noch in verklärter Form. „Der imperiale Raum erschien in diesen Erinnerungen nicht als politischer, sondern als sozialer und touristischer Raum“, betont Aust. An das alte Russland und die Sowjetunion knüpfen auch die Konzepte der russischen Welt („russkij mir“) und Eurasiens an, die das Land vom Westen Europas abgrenzen und in der Außenpolitik eine zunehmende Rolle spielen, wie beispielsweise die 2007 gegründete Stiftung Russkij Mir und die inzwischen fünf postsowjetische Staaten umfassende Eurasische Wirtschaftsunion.
Die Konstituierung einer Föderation als Nachfolgestaat eines Imperiums war nach Aust „eine plausible Lösung“. Damit habe die Russländische Föderation eine Größe und Vielfalt bewahrt, die über den Raum eines russischen Nationalstaats hinausgehe. Was die internationalen Beziehungen betrifft, so verweist der Autor zu Recht auf die Enttäuschungen der russischen Erwartungen hinsichtlich eines gemeinsamen europäischen Raums durch die Osterweiterung der NATO, deren Intervention im Kosovo und den US-Einmarsch in den Irak. Damit musste in Moskau der Eindruck entstehen, dass man nicht auf Augenhöhe akzeptiert, sondern vom Westen missachtet werde, die USA als Weltmacht in einer unipolaren Weltmacht selbstherrlich agierten.
Die Jahre 2007/2008 waren schließlich ein Einschnitt, vor allem die Kündigung des ABM-Vertrages 2001 und der Aufbau eines Raketenabwehrsystems durch die USA. Russland nahm Kurs auf eine multipolare Weltordnung, wofür beispielsweise die Kooperation mit China und solche neuen Institutionen wie BRICS oder Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit stehen. Gleichzeitig kritisiert Aust Russland, dass es nicht mehr die Kommunikation in der Staatenwelt suche, sondern sich auf das Recht des Stärkeren verlasse. Von Moskau eine „Politik des Systemeintritts in die Strukturen des Westens“ zu erwarten, erscheint reichlich naiv.
Margareta Mommsen, Dozentin an der Hochschule für Politik München, beschäftigt sich mit dem politischen System Russlands und der Rolle Wladimir Putins. Ihre Ausgangsthese ist, dass in Russland „ein verborgenes Netzwerk von mächtigen Männern“ herrsche, „in dem die politischen und ökonomischen Interessen der regierenden Eliten Russlands ausgehandelt werden“. Die Spitze der Machtpyramide aus informellen Gruppen nennt die Autorin „das Putin-Syndikat“, An diese Machtkonstellation seien die formellen Institutionen der „Scheindemokratie“ wie Parlament und Ministerkabinett angedockt. Das alles läuft dann unter dem Begriff des „Putinismus“. Ausgehend von dieser Prämisse untersucht die Autorin die Entwicklung des russischen Staates seit 1991 in sechs Kapiteln: von der Machtübergabe Jelzins an Putin über das „System Putin“ bis zum Ukrainekonflikt und die Jahre danach.
Der Putinismus sei aus dem Jelzin-System herausgewachsen, habe an dessen „Superpräsidentialismus“ und oligarchischen Kapitalismus angeknüpft, ihn dann zu einer spezifischen Form des Staatskapitalismus umgestaltet. Durch eine Reform der Macht sei es gelungen, die galoppierende Dezentralisierung in den Griff zu bekommen und einen starken Staat zu schaffen. Dabei habe sich der informelle Pakt mit den Wirtschaftsmagnaten und den Sicherheitsdiensten bewährt. Dass Putin „am Haken der Geheimdienste“ hänge, wird von der Autorin nicht mit Fakten belegt. Auch die Einschätzung von Alexej Nawalny als „neuem Volkshelden“ und „politischem Märtyrer“ wie auch Michail Chodorkowskis als „brilliantem Pionier der Marktwirtschaft“ entspricht dieser recht einseitigen Sicht.
Der Außenpolitik wird relativ wenig Raum gewidmet. Die Autorin verweist hier auf Erfolge Putins wie die „Landnahme der Krim“ und die Wiedererlangung eines Großmachtstatus’. Zugleich hätten die im Zuge der Ukrainekrise vom Westen verhängten Sanktionen nur eine begrenzte Wirkung. Etwas merkwürdig erscheint dagegen die Schlussfolgerung, „dass die russischen Bürger die Stoßrichtung der EU-Sanktionen, die Aufforderung nämlich, im Ukrainekonflikt einzulenken, gar nicht verstanden“. Während die Autorin George W. Bush als Vorbild für Putin eindeutig überschätzt, verkennt sie seine Aufkündigung des ABM-Vertrages und seine Irak-Invasion als wichtige Gründe für die Differenzen zwischen Russland und den USA.
Martin Aust: Die Schatten des Imperiums. Russland seit 1991, C.H.Beck, München 2019, 190 Seiten, 14,95 Euro.
Margareta Mommsen: Das Putin-Syndikat. Russland im Griff der Geheimdienstler, C.H.Beck, München 2017, 251 Seiten, 14,95 Euro.
Schlagwörter: Hubert Thielicke, Margareta Mommsen, Martin Aust, Russland, Sowjetunion