24. Jahrgang | Nummer 3 | 1. Februar 2021

Klaus Mann als Drehbuchautor

von Mathias Iven

Weihnachten 1944. Klaus Mann schreibt an seinen „brüderlichen Freund“, den Verleger Fritz Landshoff: „Ich sitze im Dreck, wate im Schlamm, spaziere durch Schnee und Regen. […] [Ich] hause nun schon seit bald drei Monaten irgendwo hoch oben im Apennin, wo es am wildesten und unwegsamsten ist.“ – Im Oktober hatten Teile der 5. US-Armee unterhalb des Futa-Passes in dem kleinen Ort Traversa Quartier bezogen. Hier, in dieser abgelegenen Gegend zwischen Bologna und Florenz, verbrachte Klaus Mann die längste Zeit seines Italien-Einsatzes an einem Ort. Gemeinsam mit anderen Armeeangehörigen war er für die Frontpropaganda zuständig. „Neben den Flugblättern“, so hieß es in dem oben angeführten Brief weiter, „die ich im Schweiße meines Angesichts, dabei oft mit frosterstarrten Fingern dutzendweise herstelle, spielen natürlich Radio und Lautsprecher die wichtigste Rolle in unserer psychologischen Kampagne.“

Sommer 1945. Gemeinsam mit dem Journalisten Raffaele Cafiero besucht Klaus Mann Ende Juli in Rom eine Vorführung von Roberto Rossellinis Film „Roma città aperta“. Ein paar Tage darauf entwickeln Rod Geiger, Rossellinis „Produzent in spe“, und er die Idee für eine Mitarbeit an Rossellinis nächstem Film. Am 4. August 1945 findet die erste Diskussionsrunde zwischen Regisseur, Produzent und Autor statt, zehn Tage später kommt es zur Vertragsunterzeichnung – von der Rossellini allerdings nichts weiß. In einem Brief an seine Mutter umreißt Klaus Mann das Projekt: „Es sind fünf oder sechs Episoden aus der italienischen Kampagne, von Sizilien bis zur Po-Ebene, die Rossellini zum dramatischen Organismus verbinden will, wobei in jeder Episode ein bestimmter Aspekt des menschlichen Verhältnisses zwischen ,Befreiern‘ und ,Befreiten‘, zwischen amerikanischem Militär und der italienischen Zivilbevölkerung, aufzuzeigen und zu beleuchten ist.“

Sofort machte er sich an die Arbeit. Der Plot war schnell gefunden: Ein kleines italienisches Dorf, amerikanische Soldaten richten eine Weihnachtsfeier für die Kinder aus, Hauptpersonen sind der Militär-Kaplan Frank Martin und der faschistischen Idealen anhängende Junge Ernesto. Auf die im Verlauf der sich immer mehr zuspitzenden Handlung gestellte Frage einer Dorfbewohnerin, warum er die Amerikaner so hasse, antwortet Ernesto: „Weil sie uns zerstören wollen – und sich zugleich als Befreier aufspielen.“ Und gerade darum ging es Klaus Mann: Am Beispiel des am Ende für die falsche Sache sterbenden Jungen sollte die Zweischneidigkeit der von den Italienern erlebten „Befreiung von außen“ gezeigt werden.

Als „Paisà“ – so der endgültige Titel des Films – 1946 in die Kinos kam, fehlte die ursprünglich vorletzte, von Klaus Mann geschriebene Episode mit dem Titel: „The Chaplain (Der Kaplan)“. Schon während der Arbeit an dem Drehbuch, das am 12. November 1945 fertiggestellt wurde und als sein letztes vollendetes dichterisches Werk gelten kann, war es zu Unstimmigkeiten gekommen. Zum einen war Klaus Manns literarischer Anspruch wenig kompatibel mit der spontanen und improvisatorischen Arbeitsweise Rossellinis. Der vertrat die Auffassung: „Die Mitarbeiter sind das Mittel, um das Ziel zu erreichen. […] Sie stehen dem Regisseur zur Verfügung wie eine Bibliothek. Seine Aufgabe ist es, herauszufinden, was er braucht und was er nicht braucht. Und auch diese Auswahl ist Teil seiner schöpferischen Arbeit.“ Zum anderen hatten Rossellini und Mann eine vollkommen unterschiedliche Sicht auf die jüngste Geschichte.

Dass der erst 1970 von Frederic Kroll im Nachlass von Klaus Mann in Zürich entdeckte, 2018 zunächst in einer italienischen Übersetzung veröffentlichte Text nun erstmals auch in einer deutschen Ausgabe vorliegt, versteht die Herausgeberin Susanne Fritz in erster Linie als „eine posthume Wiedergutmachung“. Da das Drehbuch in vielerlei Hinsicht Fragen aufwirft, hat Susanne Fritz Vertreter unterschiedlicher wissenschaftlicher und künstlerischer Disziplinen gebeten, sich zu dem Text zu äußern. So setzt der Historiker Carlo Gentile die realen Ereignisse während der Zeit der deutschen Besetzung Italiens sowie den verlustreichen Vormarsch der Alliierten in Beziehung zu Klaus Manns persönlichen (Kriegs-)Erfahrungen und den von ihm für das Drehbuch geschilderten Begebenheiten. Der Theologe und Ethiker Friedrich Lohmann, der von der Frage ausgeht, wie sich ein militärisches Eingreifen „im Namen des Guten“ rechtfertigen lässt, stellt am Schluss seines Beitrages fest: „Die größte Wandlung hat Klaus Manns Denken freilich hinsichtlich der moralischen Bewertung des Krieges durchlaufen.“ In eine ähnliche Richtung argumentiert auch der Philosoph Alberto Gualandi. Er sieht Klaus Mann als Vertreter eines „apokalyptischen Humanismus“, der ein Menschenbild vertritt, das ihm erlaubt, „selbst seinen schlimmsten menschlichen wie politischen Gegnern auf einer tieferen Ebene zu verzeihen“. Und der Filmkritiker Georg Seeßlen blickt auf das Zusammentreffen von Mann und Rossellini zurück, als eine Begegnung „zwischen einem ,möglichen Wahlverwandten‘ (Rossellini über Mann) und einem ,Regisseur bedeutenden Formats‘ (Mann über Rossellini)“. Zudem hat sich Susanne Fritz mit dem Regisseur Didi Danquart über das Drehbuch unterhalten. „Es scheint“, so Danquarts Auffassung, „dass [Mann] eine Art Entglorifizierung der Siegreichen, der Sieger betreibt und dass sich das in seinem Script eindeutig manifestiert. Das ist guter Neorealismus!“ In einem weiteren Gespräch mit der Dokumentarfilmerin Chiara Sambuchi stand am Ende die Feststellung: Mann hatte „die Zerrissenheit innerhalb der italienischen Gesellschaft erkannt. Doch Italien wollte diese nicht wahrhaben […]. Deshalb war dieses Drehbuch für die Nachkriegszeit in Italien zu modern.“

Neben dem Drehbuch und den Diskussionsbeiträgen findet sich noch ein weiterer Text von Klaus Mann in dem hier besprochenen Band. Dabei handelt es sich um das gleichfalls 1970 von Frederic Kroll entdeckte Romanfragment „The Last Day“. Erste, in Cannes entstandene Skizzen lassen sich auf den 11. April 1949 datieren. Kroll hat die vorhandenen Aufzeichnungen zu einer das Ganze erahnbaren „Lesefassung“ zusammengefügt, der Manns vollständige, 20 Kapitel umfassende Synopsis vorangestellt ist. Die Handlung des bis heute fast unbekannten Romans, der nach Krolls Meinung womöglich Klaus Manns „Meisterwerk und erzählerischer Durchbruch geworden wäre“, hätte sich innerhalb von 24 Stunden in New York und Ostberlin abgespielt: „Die Hauptfigur der New Yorker Handlung, Julian, wäre weitgehend autobiografisch gewesen; Albert in Ostberlin sollte die nahezu erste männliche Hauptfigur Klaus Manns werden, die ihm nicht ähnlich gewesen wäre.“

Mit dem von Susanne Fritz herausgegebenen Band wird ein wichtiges, bis dato noch weitgehend unerforschtes Kapitel in Klaus Manns Werk- und Lebensgeschichte gewürdigt.

Klaus Mann: Der Kaplan. Ein Drehbuch für Roberto Rossellinis Filmklassiker „Paisà“, hrsg. von Susanne Fritz, Wallstein Verlag, Göttingen 2020, 292 Seiten, 29,90 Euro.