Am 10. Juli dieses Jahres feiert die Literaturwelt den 150. Geburtstag von Marcel Proust. Und nicht nur das: Im Jahre 2022 jährt sich zudem dessen 100. Todestag. Ganz klar, dass die Verlage solch ein Doppeljubiläum mit zahlreichen Neuerscheinungen begleiten …
Den Auftakt machte Ende letzten Jahres der Reclam Verlag. Bernd-Jürgen Fischer, dem wir nicht nur eine Neuübersetzung von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ zu verdanken haben, hat ein „Album in Bildern und Texten“ zusammengestellt, das eine kompakte Einführung in das Leben und Werk von Marcel Proust bietet.
Am Beginn des dreigeteilten Buches steht ein dem Leben und Werk von Proust gewidmetes Kapitel, das zunächst auf dessen Pariser Schulzeit eingeht. Nach dem Besuch einer privaten Grundschule trat Proust im Oktober 1882 in die Quinta des noch heute existierenden Lycée Condorcet ein. Eine Aufnahme aus dem Jahre 1887 zeigt den 16-Jährigen „mit seinen großen Gazellenaugen und matten Lidern; respektvoll, agil, anschmiegsam, unruhig; ein Sammler von Feinheiten, dem nichts zu langweilig war“ – so beschrieb ihn der Philosoph Paul Desjardins. Und sein Mitschüler Robert Dreyfus erinnerte sich: „In unserer kleinen Gruppe von Lyzeumsschülern bewunderten wir alle Proust, wir spürten in ihm ein außergewöhnliches Wesen, aber wir waren verschüchtert und uneins“.
Mit der anschließenden Berufswahl tat sich Proust schwer. Einzig die Literatur und das Schreiben interessierten ihn. Über mehrere Jahre hinweg beteiligte er sich an zumeist kurzlebigen Zeitschriftenprojekten. Ein Großteil, der in dieser Zeit entstandenen Beiträge ging ein in sein erstes Buch. Im Juni 1896 erschien „Freuden und Tage“, das Vorwort stammte von dem späteren Literaturnobelpreisträger Anatole France.
Noch vor der Veröffentlichung seines Erstlings begann Proust mit der Arbeit an „Jean Santeuil“. Vier Jahre lang versuchte er, die stetig anwachsende Sammlung von Notizen zu einem Ganzen zu formen. Im Herbst 1899 legte er das Manuskript zur Seite. Erst Jahre darauf nahm er sich den Text noch einmal vor, schließlich nutzte er die erstmals 1952 veröffentlichten Aufzeichnungen als Ideenreservoir für „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Nicht anders erging es der Essay-Sammlung „Contre Sainte-Beuve“. Noch im August 1909 verkündete Proust in einem Brief an Alfred Vallette, Herausgeber der Zeitschrift „Mercure de France“: „Ich beende ein Buch, das trotz seines vorläufigen Titels ,Gegen Sainte-Beuve, Erinnerung an einen Vormittag‘ ein echter Roman ist, und zwar in manchen Teilen ein höchst unsittlicher.“ Doch auch „Contre Sainte-Beuve“ blieb unabgeschlossen, wurde zu einer Vorstufe des Kommenden.
Ein Jahrzehnt später endlich der Durchbruch. Am Nachmittag des 10. Dezember 1919 erreichte Proust die Mitteilung, dass ihm der „Prix Goncourt“ zuerkannt worden war. Sechs der zehn Jurymitglieder hatten für ihn gestimmt: „Im Schatten junger Mädchenblüte“, der zweite Band der „Suche“, war der Roman des Jahres. Die in weiten Kreisen auf Unverständnis stoßende Nachricht war für ihn, „wie ein Neujahrsgeschenk, das man zu Weihnachten bekommt, und das in einem Jahr, in dem man glaubt, dass man gar nichts zu Neujahr bekommen wird“. Und seiner Haushälterin erklärte Proust: „Er ist heute der einzige wertvolle Preis, weil er von Männern vergeben wird, die wissen, was ein Roman ist und was er wert ist.“
Im zweiten Kapitel von Fischers „Album“ steht Prousts Familie im Mittelpunkt. Los geht es mit dem Vater Adrien Proust, der bereits in jungen Jahren Herausragendes auf dem Gebiet der Seuchenbekämpfung leistete. Vorgestellt werden die Mutter Jeanne Clémence Weil und Marcels jüngerer Bruder Robert, der als Arzt und Wissenschaftler fast so berühmt werden sollte wie der Vater. Hinzu kommen von der Seite der Mutter ihr durch Finanzgeschäfte zu einigem Wohlstand gekommener Vater Nathé Weil und dessen aus Trier stammende Frau Adèle Berncastel samt Nathés Bruder Louis, in dessen Haus Marcel geboren wurde. Und schließlich gehört noch der mit Amélie Oulman verheiratete Bruder der Mutter, der Jurist Georges-Denis Weil, dazu.
Auf der väterlichen Seite finden wir neben den in Illiers ansässigen Großeltern Valentin und Virginie Proust Jules Amiot, Inhaber eines gutgehenden Modegeschäfts, und dessen Frau Élisabeth, die sechs Jahre ältere Schwester von Prousts Vater. Wenn es seine beruflichen Verpflichtungen erlaubten, verbrachte Adrien mit seiner Frau und den beiden Kindern die Osterferien und einige Wochen im Sommer in Illiers, das unter dem Namen „Combray“ in die „Suche nach der verlorenen Zeit“ eingegangen ist.
Neben der Verwandtschaft werden in diesem Abschnitt auch die von Proust zwischen 1906 und 1922 angemieteten Wohnungen vorgestellt. Da ist zunächst der Boulevard Haussmann Nr. 102. Proust lebte hier ab Dezember 1906. Für alle im Haushalt anfallenden Arbeiten waren Félicie Fiteau und Jean Blanc zuständig, beides ehemalige Angestellte seiner verstorbenen Eltern. Als das Haus 1919 an eine Bank verkauft wurde, kam Hilfe von der Schauspielerin Réjane. Durch ihren Sohn hatte sie von Prousts Problemen erfahren und bot ihm kurzerhand eine Etage in ihrem Stadtpalais in der Rue Laurent Pichat 8 bis an. Nach nur wenigen Monaten zog Proust jedoch noch einmal um. Für jährlich 16.000 Francs mietete er eine Wohnung im 5. Stock der Rue Hamelin Nr. 44. Proust sprach von „einer bescheidenen Hütte“. Bescheiden? Es gab vier Schlafzimmer, einen großen und einen kleinen Salon, ferner ein Zimmer für seine Haushälterin …
Im abschließenden dritten Kapitel des Buches begegnen wir Prousts Freunden und Bekannten. Auf rund 120 Seiten werden 50 Personen vorgestellt, die irgendwann auf die eine oder andere Art und Weise Prousts Lebensweg gekreuzt haben. So beispielsweise die Mitglieder der sogenannten „Viererbande“, die am Lycée Condorcet zueinander fanden und 1892 eine Schülerzeitschrift herausbrachten. Neben Proust gehörten ihr Robert Dreyfus, Daniel Halévy und Jacques Bizet an. Unter den von Fischer Porträtierten finden sich auch einige Personen, die Eingang in die „Suche nach der verlorenen Zeit“ fanden, zum Beispiel Laure de Chévigné, Urenkelin des Marquis de Sade, die zum Vorbild für die Herzogin von Guermantes wurde oder Clément de Maugny, der für die Figur von Robert de Saint-Loup Pate stand.
Élisabeth Greffulhe, die „größte Schönheit aller Zeiten“, gehörte gleichfalls zu Prousts Bekanntenkreis. Die Tochter des ehemaligen belgischen Außenministers unterhielt einen der mondänsten, von Proust allerdings nur selten besuchten Salons. In ihrer Eigenschaft als Präsidentin der „Société des Grandes Auditions musicales de France“ war sie an der Organisation von Opernaufführungen und Orchesterkonzerten beteiligt. Zudem unterstützte sie die 1909 von Sergej Djagilew gegründeten Ballets Russes. – Und natürlich werden auch die Personen vorgestellt, die Proust im alltäglichen Leben umsorgten. An erster Stelle ist hier Céleste Albaret zu nennen, die ihm ab 1913 den Haushalt führte und bis zur letzten Stunde an Prousts Seite war.
Das vorliegende Album steht in einer Reihe mit den Veröffentlichungen von Pierre Clarac und André Ferré (1965), Renate Wiggershaus (1992) und Prousts Urgroßnichte Patricia Mante-Proust (2012). Bernd-Jürgen Fischer geht mit seiner Zusammenstellung von teils erstmals übersetzten Texten sowie den mehr als 100 Fotografien und Gemälden über all das Bisherige hinaus und verschafft selbst dem Proust-Kenner noch manches Aha-Erlebnis. Vor allem aber macht er Lust auf die Lektüre eines der faszinierendsten Werke der Weltliteratur.
Bernd-Jürgen Fischer (Hrsg.): Auf der Suche nach Marcel Proust. Ein Album in Texten und Bildern, Philipp Reclam jun. Verlag, Ditzingen 2020, 244 Seiten, 28,00 Euro.
Am 4. Januar 2021 hat rbbKultur mit einem Mammutprojekt begonnen: Peter Matić liest „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Der vollständige Roman in 329 Folgen ist hier nachzuhören.
Schlagwörter: Bernd-Jürgen Fischer, Marcel Proust, Mathias Iven, Reclam Verlag