23. Jahrgang | Nummer 26 | 21. Dezember 2020

SCHNEEFELD

von Henry-Martin Klemt

Für Rita

Den schwarzen Schnee. Den weißen. Und den roten.
Ich kenne jeden, auch den aschegelben.
Den Schnee der Lebenden und den der Toten.
Die gleichen Flocken, aber nie dieselben.

Schnee meiner Kindheit, erster Liebe Schnee,
in nassen Stiefeln, unter Schlittenkufen,
Schnee des Verrats, am Rand der Odyssee,
und des Vergessens. Schnee auf allen Stufen.

Und irgendwann: Ein Schneefeld ohne Spur.
Ein nachtbeglänztes, morgenfrüh ergrautes.
Muß, was geschehn wird, denn sofort geschehen?

Wenn nichts geschieht, wenn Wege spurlos bleiben
und spurlos Stunden, Jahre, klammer Tod
sogar verschwindet, spurlos, nie gewesen.
Die Bäume schütteln sich und wir genesen.
Die Müden schlafen, nackt und unbedroht.
Ich bleibe stehen. Nur die Flocken treiben.

Die ersten Schritte werden zur Tortur.
Doch dann: Zu einem Lächeln wird mein Gehen
und aus dem Unberührten wird Vertrautes.

Dezember 2020