23. Jahrgang | Nummer 25 | 7. Dezember 2020

Die Misere liberaler Gesellschaften

von Stephan Wohanka

Nach dem Kollaps des sozialistischen Weltsystems rief Francis Fukuyama 1992 das Ende der Geschichte aus. Gemeint war damit keine „Terminierung“, sondern ein „Ziel“, ein „Bestimmungsort.“ Während Marx dieses Ende in der „kommunistischen Utopie“ gesehen habe, sei doch eher Hegel zu folgen, der es in einem „liberalen marktwirtschaftlichen Staat“ verortete. So ist Fukuyamas These ein Abgesang an linke Sinngebung; der Individualismus hatte den „Horror“ kollektivistischer Ideologien überwunden.

Es deutete sich schon länger an – nun ist es offenbar: Nicht nur linke Sinngebung zeigt sich erschöpft, sondern auch liberale oder konservative Sinnvarianten westlichen Denkens; Begriffe wie „Epochenbruch“, „Zeitenwende“ oder „Erosionskrise“ stehen dafür. Die Coronakrise stellt – nichts Neues – politische, soziale und kulturelle Verwerfungen, die schon länger gärten, aber zuvor teils bewusst übersehen, teils bagatellisiert wurden, in grelles Licht. Die liberalen marktwirtschaftlichen Staaten stehen unter Druck – und zwar durch Autokraten, die Wiederkehr des Rechtsextremen, der Nationalisten und Rassisten, die Hass und Terror säen; doch nur durch diese? Und das unter Bedingungen sozialer Ungleichheit, des Klimawandels, von Umweltbelastungen aller Art und eben der Pandemie. Die sinngebenden Bindekräfte scheinen erschöpft, Humanes verbraucht.

Historisch abgewirtschaftet, macht die auftrumpfende Rechte, sozusagen im dialektischen Gegenzug zur „erschöpften Linken“, die Probe aufs Exempel: „Wenn du rechts bist – das Gei­le daran ist: Du darfst alles“, triumphiert der Rechtsaußen Martin Lichtmesz. Man sollte „alles“ als wirkliches alles nehmen! Die Menschenwürde komme einem „Irrtum“ gleich. Figuren aus seinem Dunstkreis halten die Menschenrechte für einen „Sündenfall der Aufklärung“. Man muss sich nicht mehr messen lassen am Humanen; die menschenfreundliche Anstrengung, die lästige Rücksichtnahme, das störende Gewissen – alles out, alles hinfällig. Nur folgerichtig ist es, den rechtsterroristischen Massenmörder Anders Breivik, der auch von „selbstmörderischen Idealen des Humanismus“ fabulierte, zu exkulpieren; ein „Zivilisationsverfall“ der Gesellschaft sei für das von diesem angerichtete Massaker mitverantwortlich. Breivik von seinem Verbrechen zu entlasten ist auf der Folie des oben Beschriebenen paradoxerweise in gewisser Weise stimmig. Dahinter verbirgt sich eine fatale, gefährliche Selbstermächtigung, die – wie bei Breivik – in ihrem militanten Hass die dunkelsten Abgründe menschlichen Seins offen zu legen vermag. Im minderen Falle ist sie Aneignung persönlicher Macht über Menschen und deren private Verhältnisse.

Auch Joachim Gauck verwendet den Begriff der Selbstermächtigung und will in ihm den Dreiklang Freiheit, Verantwortung und Toleranz sehen. „Ermächtigung“ rekurriert auf „Macht“, und man kann sie auch im historischen Kontext zu Gesetzen der Jahre 1914 oder 1933 verorten; sie ist janusköpfig. Um dieser Ambivalenz zu entgehen, wäre wohl besser von Selbstbestimmung zu reden als Basis unveräußerlicher Bürgerrechte, die jedem Individuum zustehen.

Lebensstile und Überzeugungen haben sich pluralisiert und damit individualisiert. Der Individualismus als Freiheit des Einzelnen hat in der westlichen Welt eine geschichtlich einmalige Ausbreitung erfahren und prägt inzwischen linkes, liberales und auch konservatives Denken. Das kritisch denkende und unabhängig handelnde Individuum stehe per se für Verantwortung und Autonomie; es sei, so die unhinterfragte Gewissheit, der Garant der freiheitlich-liberalen Gesellschaftsordnung. Schon richtig; aber ist da nicht auch einiges Irritierende? Wenn zu lesen ist, dass „ich Schöpfer meiner eigenen Realität bin“, „mir selber aussuchen (kann), was ich im Leben mache“ und „mir genauestens vorstellen (kann) wie ich meine Gegenwart gestalte und in welche Richtung sich mein Leben bewegen soll“, dann ist schon zu fragen, woher sich eine derartige grenzenlose Selbstverblendung nimmt?

Geschuldet ist sie letztlich einer politischen Kultur, die Individuelles als sakrosankt betrachtet, Sozial(ökonomisches) jedoch gering schätzt. Sie hatte intellektuelle Vordenker; ihre Anhänger in Politik und Wirtschaft wie Thatcher und Reagan, später Blair und Schröder legten das Fundament für den neoliberalen Siegeszug , der sich ab den 1970er Jahren zunehmend beschleunigte und mit dem eingangs erwähnten Zusammenbruch des Sozialismus totale Dominanz erreichte. Es kam nicht nur zu Deregulierung, Privatisierung und Steuersenkungen, sondern auch Recht, Philosophie und Kultur wurden regelrecht umgepflügt.

Paradoxerweise hat gerade die von den (Sozial-)Demokraten ins Werk gesetzte Bildungsoffensive, die die alten Klassengrenzen sprengen sollte, einem fatalen Prozess Vorschub geleistet. Der soziale Aufstieg führte über Schulen und Universitäten, was jahrzehntelang auch funktionierte: Aus früheren Arbeiterparteien sind längst Akademikerparteien geworden; erstere wurden sozusagen Opfer ihres eigenen Erfolgs. Es liegt im Wesen der Bildung, dass sie Selbstbestimmung und Individualismus fördert, dass der Leistungsgedanke und die Konkurrenz stärker in den Fokus rücken. Da bleiben Menschen außen vor; der emanzipatorische Ansatz wurde zum elitär-individualistischen. Herausgekommen sei dabei – so der US-amerikanische Philosoph Michael Sandel – eine übersteuerte Leistungsgesellschaft, die er „Tyrannei der Meritokratie“ nennt. Grundsätzlich sei nichts gegen eine Gesellschaft einzuwenden, in der Arbeit, Lohn und Stellung von eigener Leistung abhängen; so gesehen sind wir alle Meritokraten, also Individuen, die sich ihre Meriten selbst verdanken. Ein „meritokratisches Wettrüsten“ habe jedoch weder zu mehr Gleichheit noch zu mehr Gerechtigkeit geführt: „Werden Jobs und Chancen gemäß der Leistung vergeben, wird die Ungleichheit nicht geringer – sie wird lediglich so umetikettiert, dass sie mit den Fähigkeiten übereinstimmt.“

In den USA hat dieser Prozess die tiefsten Spuren hinterlassen; die Clintons und die Obamas stehen als Absolventen von Eliteuniversitäten prototypisch für die US-amerikanische Meritokratie. Obamas häufig wiederholte, anspornend gemeinte Worte „you can make it if you try“ können, wenn Gründe für eigenes Versagen als Ausreden gelten, das Gegenteil bewirken. Und Hillary Clintons „basket of deplorables“ (Korb der Kläglichen) war im Wahlkampf 2016 eine Steilvorlage für Trump, der prompt „die wenig Gebildeten“ liebte; die erkannten sich in ihm wieder. Angesichts der sechs Millionen Stimmen mehr für Trump bei der gerade gelaufenen Wahl kann sein Sieg 2016 nicht mehr als „Wahlirrtum“ abgetan werden.

Aber auch hierzulande ist der Bildungserfolg weiterhin abhängig von Elternhaus und Postleitzahl und sorgt so für ungleiche Startchancen im Leben. Die individuellen Erfahrungen aus Bildung und Arbeit bleiben so gesellschaftlich höchst unterschiedlich; sie machen Bildungsgewinner arrogant und demütigen Verlierer, die eine Wertschätzung vermissen. Es ist klar, dass die (urbanen) Bildungseliten, an den Schalthebeln sitzend und die Welt nach ihren Vorstellungen gestaltend, ihre Privilegien hüten. So hat sich mit den Jahren eine Kluft aufgetan zwischen „Dazugehörigen“ und „Abgehängten“; jeweilige Identitäten verfestigen sich, nicht nur ökonomisch, sondern auch kulturell, habituell. Dazwischen Unverständnis und Ressentiments. Die „gemeinsame Geschichte“ von Ost und West wurde zum „Narrativ“ der einen; einem unverständliches Modewort für die anderen.

So sind liberale Gesellschaften nicht nur von „rechts“ bedroht, sondern paradoxerweise auch von „links-liberal“ – durch einen sich überschätzenden und überhöhten Individualismus. Eine Ideologie, die gesellschaftliche Konsensfindung erschwert, wenn nicht unmöglich macht. Das Individuum setzt immer schon Gesellschaft voraus; eine funktionierende, keine durch überbordende Ichbezogenheit zersplitterte. Vonnöten wäre eine Debatte darüber, wie eine nicht-gespaltene Gesellschaft aussehen könnte: Wie können individuelle Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte wieder mit denen von Kollektiven und Gruppen zusammengeführt werden? Nur eine Frage, eine andere aber auch: Wo blieben gesellschaftliche Differenzierungen wünschenswert und sogar notwendig, um gesellschaftliche Diskurse beleben und politische Debatten befördern zu können? Wobei nicht allein gebildeten Mitbürgern zuzuhören wäre …