23. Jahrgang | Nummer 23 | 9. November 2020

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Zdenek Adamec“ – Kammerspiele des Deutschen Theaters / „Mourning becomes Electra“ – Volksbühne

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Im frühen Morgenlicht des 6. März 2003 klettert in Prag der achtzehn Jahre alte Zdenek Adamec aus dem böhmischen Provinznest Humpolec mit einem Fünf-Liter-Eimer voll Benzin die Treppen des Nationalmuseums hinauf, um sich mit (letztem) Blick auf den Wenzelsplatz den Brennstoff über den Kopf zu gießen und sich anzuzünden. Das war 34 Jahre nach dem Feuertod des Studenten Jan Palach, der an selber Stelle sich umbrachte aus Protest gegen das gepanzerte Niederwalzen des Prager Frühlings.

Der junge Mann kommentierte seine „Aktion Fackel“ im Internet als Widerstand gegen den kapitalistischen Weltzustand und forderte die Schaffung einer „totalen Demokratie“. Er selbst sah sich als ein „weiteres Opfer des so genannten demokratischen Systems, in dem Geld und Macht alles entscheiden“ und gehörte zu einer Gruppe von Hackern, die Teile des Prager Stromnetzes sabotierte, um das „falsche Licht“ auszuknipsen. Zum Schluss seines an alle Nachwelt gerichteten Abschiedsbriefs heißt es „Bitte macht keinen Irren aus mir!“ ‑ doch genau das passierte. Und alsbald war Zdenek Adamec vergessen.

Jetzt, knapp zwei Jahrzehnte später, setzte ihm der österreichische Schriftsteller Peter Handke einen poetischen Epitaph, der erstmals gezeigt wurde im Sommer zu den Salzburger Festspielen. Handke nennt seinen Text „Zdenek Adamec. Eine Szene“.Diese eine Szene kommt ohne Rollen- oder Figurenzeichnungen aus. Und spürt schon gar nicht kriminalistische, dokumentarische oder gar politische Wahrheiten oder Hintergründe auf.

„Was hat er sich wohl versprochen von seiner Selbstverbrennung gegen den Zustand der aktuellen Welt?“, fragt der Dramatiker ‑ ohne Antworten zu geben. Oder höchstens: Mögliche Antworten vage einzukreisen.

Dabei raunt Handke gewisse eigene Ahnungen und Ansichten ins Weltall: Etwa über den beklagenswerten Zustand der Menschheit in unseren vermeintlich misslich modernen, unschön wunderlichen Zeiten und über die stets aufs Neue konfliktreichen Beziehungen der Leute untereinander. Da schwingen Sehnsüchte nach Harmonie und Ruhe, aber auch Ängste sowie das ungutes Gefühl eines seltsamen „Gefuchtels im Leeren“.

Das alles hätte auf ähnliche Art sogar dem Zdenek durch Kopf und Herz strömen können, bevor er sich auf so grausame Weise aus dieser ihm fremd, grauenvoll und schmerzlich erscheinenden Welt im grell lodernden Protest schleuderte.

Die – scheinbar? – ungeordnet daher redenden, meinenden, erfindenden, vermutenden – oder meditierenden? – sechs Personen in Handkes „weiträumiger“ Szene sind, diverse Verpackungen von Instrumenten deuten darauf hin, wie zufällig „jetzt oder sonst wann“ gestrandete Musiker in entrückter Einsamkeit.

Der Ort ist, so ein Hinweis des Autors, „möglicherweise ein ehemaliges Klosterrefektorium oder ein Kleinstadt-Tanz-und-Festsaal“. Und so baute Jens Kilian auf die DT-Kammerspielbühne einen mit rohen Holzbänken und Tischen vollgestellten Saal mit Heiligenbildern an den Wänden samt einer Jukebox in der Ecke. Sozusagen ein Wartesaal, eine spartanische Durchgangsstation, die sich im Verlauf des 70minütigen geheimnisumwitterten Abends auf unheimlich sanfte Art weitet.

Regisseur Jossi Wieler dirigiert die sechs nicht näher beschriebenen Personen behutsam hin und her oder lässt sie einfach sitzen, derweil sie schwadronieren oder eben schweigen. Freilich, der große alte Könner seines Fachs gibt einer jeden Stimme in diesem melancholisch rauschenden Kammerkonzert eine gewisse Kontur und Färbung (nassforsch, nüchtern, bedenklich, versponnen, verärgert oder gleichgültig). Das erlesene Ensemble (Felix Goeser, Lorena Handschin, Marcel Kohler, Bernd Moss, Linn Reusse, Regine Zimmermann) zelebriert die Gestimmtheiten so hingebungsvoll wie eindrücklich.

Und so fügt sich alles, könnte man meinen, zu einem abgehoben feinen, rätselhaften, für Momente sogar komischen Gesang vom letztlich doch schlimmen, oder wenigstens unbequemen Zustand hier auf Erden. Peter Handke sagt: „ein Gewölle aus Fantasien“. Gewissheiten fallen mithin aus. Was bleibt stiftet verstörendes Unbehagen.

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Man darf getrost sagen: „Trauer muss Elektra tragen“ ist eine verrückt schäumende Seifenoper, geschrieben von Eugene O’Neill zwischen 1929 und 1931 (Gerhart Hauptmann war begeistert). – Heutzutage würde man sagen: Der Amerikaner überschrieb sie, denn seine Vorlage ist die „Orestie“ von Aischylos.

Der 1931 in New York uraufgeführte Dreiteiler „Mourning becomes Electra“ mit insgesamt 13 Akten und ungekürzt sieben Stunden Spieldauer gäbe eine respektable Netz- oder TV-Serie her ‑ die „Orestie“ immerhin ist ja auch keine Kleinigkeit. In diesem blutüberströmten Sex-and-Crime-Drama toben Leidenschaft und Niedertracht, was allemal tauglich ist für ein Massenpublikum.

Freilich, Aischylos‘ Geschichte der mythischen Göttersippe verhandelt bei allem althergebracht-religiös verordneten Blutvergießen im Kreislauf von Schuld und Rache letztlich einen politischen Fortschritt durch Einführung einer zivilen Gerichtsbarkeit. O’Neill hingegen beschränkt sich mit seiner irdischen Familiensaga der mittelständische Mannon-Family aus Neu England 1865 aufs Demaskieren eines Kleinbürgerwahnsinns in einer gottlosen Welt. Und verortet Mord und Totschlag allein im extrem Triebhaften, in egomanischer Glückssehnsucht.

Der 170-Minuten-Abend fängt in der Regie von Pinar Karabulut zunächst ziemlich großartig an. Nämlich als Hollywoodkino; Thema: besagter Kleinbürgerwahnsinn. Da wird in einem perfekt gemachten Film, gedreht in sämtlichen (!) Räumlichkeiten des Volksbühnengebäudes, Wesentliches erzählt. Wobei das massenhaft auftretende Figurenpersonal pfiffig zusammen gestrichen wurde auf fünf von Teresa Vergho trefflich kostümierte Protagonisten.

Der Volksbühnen-Kintopp macht den Plot der Story zumindest grundsätzlich nachvollziehbar: Christine Mannon = Klytämnestra, die ist der Superstar als allgemein gedemütigte „Bitch“ (toll: Sabine Waibel); sie erwartet ihren gehassten Ehemann und Kriegsheimkehrer Ezra Mannon = Agamemnon (Robert Kuchenbuch), hat jedoch längst ein Verhältnis zum entfernten Verwandten Adam Brant = Ägisth (Malick Bauer), den auch ihre Tochter Lavinia Mannon = Elektra (Paula Kober) liebt. – Und nun das familiär Mörderische: Christine Mannon ermordet Ehemann Ezra Mannon, Tochter Lavinia Mannon treibt ihren Bruder Orin Mannon = Orest (Manolo Bertling), dem sie inzestuös nahe steht, dazu, die verhasste Mama abzustechen und deren Lover Adam Brant gleich mit, womit sie wiederum ihren Liebhaber problemlos entsorgte.

Soweit das Kino. Doch nach etwa einer Stunde ist Schluss damit, und in den folgenden 90 Minuten auch mit der Verständlichkeit. Die Leinwand fährt hoch, ein sinnigerweise auf dem Kopf stehendes Bausparkassenhäuschen (Szene: Michaela Fluck) taucht auf und rotiert in magisch dunkelblauem Licht auf der Drehscheibe: Es ist die Behausung der Mannons. Und der Beginn eines fortan hemmungslosen und nur noch schwer kapierbaren Herumstocherns in den geballten Traumata der Sippe.

Weil das alles auch noch surreal sein soll, treten die Toten als ihre lebendig gewordenen Wiedergänger auf in einer poppigen Endlosperformance aus Horror, Zirkus, Agitprop und Theatertheorie, aus Familienaufstellung, Rocker-Solo, Kabarett oder Softporno. In diesem Riesenkübel voll Eintopf dampft und gärt es mithin mächtig ‑ im Kochbuch-Verzeichnis stehen Namen wie Heiner Müller, Fassbinder, David Lynch, Charles Manson und natürlich Frank Castorf.

„Mourning becomes Electra“, den eingebürgert deutschen Titel lässt man fallen im kosmopolitischen Volksbühnentheater, ist ein wilder, wüster, hysterischer Hybrid. Da soll mit einer Flut von genialen, halb genialen, höchst relevanten und irrelevanten Einfällen Verfremdung, ironische Distanz, Vergegenwärtigung und also Erhellung erzeugt werden. Doch das Gegenteil geschieht: Wirrwarr im Dunkeln – trotz toller Schauspieler.

Die finale Frage, ob Elektra-Lavinia fortan Trauer tragen muss, bleibt ungewiss. Wahrscheinlich ist, dass sie dringend eine Therapie, einen genialen Therapeuten braucht.