In der jüngeren Geschichte des Parlamentarismus dürfte es ein Novum gewesen sein: Die regierungstragenden Fraktionen im Sächsischen Landtag konnten sich nicht auf einen gemeinsamen Festakt zum Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober einigen. Im Ergebnis des Streits fanden zwei voneinander getrennte Veranstaltungen statt. Die Christdemokraten begingen ihre Feier im Plenarsaal des Sächsischen Landtags; die mitregierenden Sozialdemokraten und Grünen zogen sich in das SPD-eigene Herbert-Wehner-Haus zurück. Während die Union weitgehend unter sich blieb (nur AfD und ausgewählte Ehrengäste leisteten ihr Gesellschaft), hatten SPD und Grüne zu ihrer Feier Vereine und Initiativen aus dem ganzen Land eingeladen. Die oppositionelle LINKE, in beiden Fällen zur Publikumsrolle verurteilt, nahm nirgends teil. So demonstrierten die Landtagsfraktionen am Tag der deutschen Einheit ihre Uneinigkeit.
Ausgelöst wurde dieser Probelauf der sogenannten Cancel Culture in der sächsischen Landespolitik durch eine Personalie. Cancel Culture meint die (Un)Kultur des Absagens und des Fernbleibens, wodurch beleidigende oder diskriminierende Aussagen oder Handlungen öffentlich gebrandmarkt werden sollen: Man ruft zum Boykott der betreffenden Person auf.
Im konkreten Fall hatte der christdemokratische Landtagspräsident Matthias Rößler in selbstherrlicher Manier einen Parteifreund aus der Nachwendezeit zum Festredner erwählt. Die Begründung für dessen Wahl: Arnold Vaatz habe „zu den führenden sächsischen Protagonisten der Friedlichen Revolution 1989“ gehört und sei „einer der wichtigsten Gestalter der Wiedergründung des Freistaates Sachsen 1990“ gewesen. Wegen seines Engagements in der christlichen Jugendarbeit war der Mathematiker und Theologe in der DDR ein halbes Jahr lang inhaftiert gewesen. Nachdem er 1990 den Koordinierungsausschuss zur Gründung des Landes Sachsen geleitet hatte, amtierte Vaatz als erster Chef der Sächsischen Staatskanzlei, später als Staatsminister für Umwelt und Landesentwicklung. Seine Karriere in hohen Regierungsämtern endete allerdings 1998. Parteifreunde sorgten für Vaatz’ Einzug in den Bundestag. Seine aufbrausende, unbeherrschte Art, war aus Regierungskreisen zu hören, hätte den Wechsel aus der Landes- in die Bundespolitik erfordert. Im höchsten deutschen Parlament ist Vaatz seit zwanzig Jahren Hinterbänkler. Seine Aufgabe besteht hauptsächlich darin, der Politik der Großen Koalition seine Zustimmung zu erteilen.
Trotzdem erklärte eine bekannte Wochenzeitung den Bundestagsabgeordneten zum „Dissident(en) fürs Leben“. Da scheinen die Kategorien etwas durcheinandergeraten zu sein, denn Regierungstreue und Staatsnähe sprechen kaum für ein Leben in Dissidenz. Sein nicht erlahmter „Widerspruchsgeist“ und seine „ewige Widerborstigkeit“ machten Vaatz „heute bisweilen zu einem Sonderling“, schrieb die Wochenzeitung. Da mag sie Recht haben, nur eben qualifizieren solche Eigenheiten einen Sonderling noch nicht zum Dissidenten. Da trifft es Sachsens Ministerpräsident schon besser, wenn er seinen Parteifreund als den „letzten aktiven Bürgerrechtler in der Bundespolitik“ bezeichnet.
Bleibt die Frage, was SPD und Grüne derart gegen diesen CDU-Politiker aufbringt, dass sie sogar den Festakt zum Tag der deutschen Einheit im Landtag boykottierten. Ein Offener Brief führender sächsischer Sozialdemokraten an den Landtagspräsidenten und den Festredner gab darüber Auskunft. Darin beklagten sie bereits am 11. September die „vielen öffentlichen Äußerungen“ des CDU-Politikers, die „auf uns“, also die Sozialdemokraten, „trennend, spaltend, polarisierend und eben nicht verbindend, nicht suchend und nicht integrierend wirkten“. An einem Tag, der „Anlass zur Freude und zum Feiern von Gemeinsamkeiten“ gebe, sollte das Verbindende hervorgehoben werden und nicht das Trennende, hieß es weiter. „Mit Blick auf diese Signalwirkung“ hätte man „die Entscheidung des Landtagspräsidenten kritisiert“. Und weil ihre „Bemühungen nicht gehört“ wurden, kündigten die Sozialdemokraten an, „dem Festakt nicht beiwohnen“ zu wollen.
Abgesehen davon, dass kein Mensch Bemühungen zu hören vermag, gaben sich die Angesprochenen unbeeindruckt von der Kritik. Der Festakt fand statt wie geplant, mit dem umstrittenen Hauptredner. Das Fernbleiben der Fraktionen von SPD, Grünen und Linken wurde eher beiläufig erwähnt und zu undemokratischem Verhalten erklärt. Um Unterstützung für seine christdemokratischen Parteifreunde zu demonstrieren, hatte Ministerpräsident Michael Kretschmer seine Teilnahme an der zentralen Einheitsfeier in Potsdam abgesagt und einen eigenen Redebeitrag zum Festakt im Landtag beigesteuert. Nach Potsdam entsandte er als Vertreter seinen Kabinettsvize, den sozialdemokratischen Wirtschaftsminister. Dem obersten Sozialdemokraten in Sachsen, Mitunterzeichner des Offenen Briefes, blieb auf diese Weise erspart, sich für oder gegen den angekündigten Boykott entscheiden zu müssen.
Der Festredner dagegen durfte sich im Selbstbild des Dissidenten bestärkt fühlen. Er hatte standgehalten und sich gegen alle Anfeindungen aus dem „links-grünen Mainstream“ in Politik und Medien behauptet. Seine unspektakuläre Rede fügte sich in die staatstragende Dramaturgie des Festaktes ein. Das Manuskript war dem Ministerpräsidenten und CDU-Vorsitzenden vorher zur Kenntnis gegeben worden, der hatte keine Einwände erhoben: Die Meinung des Parteikollegen, die hier und da von der seinen abweiche, toleriere er als Demokrat selbstverständlich.
Den größten Teil der Rede widmete der Dissident seiner Rolle als ein Gründervater der parlamentarischen Demokratie in Sachsen. Mit dem Weltgeist im Bunde nahm die Revolution in Sachsen dank der in der Tat beachtlichen Courage und unermüdlichen Aktivität des Bürgerrechtlers den vorbestimmten Verlauf. An dessen Ende stand die christdemokratische Alleinherrschaft, verkörpert von einem Bürgerkönig namens Kurt Biedenkopf. Eine glanzvolle Ära, in der Elbflorenz aus Ruinen auferstand. Aller Bitternis in der Nachwendezeit zum Trotz waren „blühende Landschaften“ entstanden, und zwar „weitaus größer als vorgestellt“.
Dem ausführlichen Exkurs in das „Wunder der Einheit“ und den „elektrisierenden Neuaufbau“ schloss sich eine kritische Betrachtung der gegenwärtigen Zustände an, hauptsächlich der politischen Öffentlichkeit in Bund und Land. Da blitzte etwas vom Widerspruchsgeist vergangener Tage auf – sowie die Nähe zu neurechtem Gedankengut. Der Redner sorgte sich nämlich um die Meinungsfreiheit, die sei heute beschränkter als in der DDR des Jahres 1990. Ein Vergleich, den Rechte oft ziehen, um eine zweite Revolution herbeizureden. Wiederholt gezogene Parallelen zur Repression unter der SED-Diktatur – etwa der Umgang der TU Dresden mit einem unbequemen Professor wie Werner Patzelt oder der Umgang der Politik mit den Protesten gegen die Anti-Corona-Maßnahmen – verraten die Sehnsucht nach der alten, kämpferischen Zeit. Bürgerrechtler, die einst gegen den „vormundschaftlichen Staat“ auf die Straße gegangen waren, protestieren heute erneut gegen die vermeintliche Bevormundung durch Politik und öffentlich-rechtliche „Staatsmedien“.
Von einem „Diktat der Presse“ sprach denn auch der Festredner. Das Wort vom „linksliberalen Gesinnungskorridor“ fiel zwar nicht, doch der Gedanke daran lag in der Luft. Da gerät dem „letzten aktiven Bürgerrechtler in der Bundespolitik“ im Kampf für die Freiheit des Andersdenkenden der politische Gegner zum Feind. Der aber darf nicht toleriert werden. Der Feind, der einen mundtot machen will, muss bekämpft, also seinerseits mundtot gemacht werden. Im Freund-Feind-Antagonismus gibt es nur ein Entweder-Oder.
Dass dem einstigen Bürgerrechtler in dieser hochideologischen Konstellation der Blick für die Realität verloren geht, zeigt ein früheres Beispiel: Nicht einmal vor der eigenen Partei machte sein Furor halt, einen Feind aufzuspüren und auszuschalten. Im Streit um eine vierte Elbquerung in Dresden 2007 bewirkten Vaatz‘ verbale Attacken, dass Intellektuelle und Künstler, die es gewagt hatten, gegen deren Bau zu votieren, unter Protest aus der CDU austraten. Der Präsident der Akademie der Künste in Sachsen war darunter. Um den Welterbe-Status für die Landeshauptstadt nicht zu verlieren, hatten sich zahlreiche Kulturbürger gegen die Mehrheit der Dresdner Einwohner gestellt, die für die Brücke und gegen den Welterbe-Titel stimmten. Das missfiel dem Bürgerrechtler so sehr, dass er die Abweichler aus der eigenen Partei im Stile eines Volkstribuns als „totalitäre Eliten“ diffamierte. Gerade diese „zutiefst antitotalitäre wie demokratische Einstellung“ qualifizierte ihn nach Ansicht des sächsischen Landtagspräsidenten, die Festrede zum Jahrestag der deutschen Einheit zu halten.
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