Omnia sponte fluant absit violentia rebus“ – „Alles fließe von selbst; Gewalt sei ferne den Dingen!“ Wenn jemand, der in schlimmen Zeiten gelebt hat – viel schlimmeren als wir heute haben –, sich dieses Motto wählt und ihm treu bleibt, dann lohnt es sich, ihn näher kennenzulernen: Die Rede ist von Jan Komenský, besser bekannt als Johann Amos Comenius, dessen Todestag sich am 15. November zum dreihundertfünfzigsten Mal jährt.
Geboren wird er 1592 in Nivnice im östlichen Mähren. Die Eltern sterben früh; das Kind wächst bei einer Tante in den Überlieferungen der Unitas fratrum auf, der Böhmisch-mährischen Brüder. Diese relativ kleine Gemeinschaft war aus der hussitischen Bewegung hervorgegangen und stand zwischen den radikalen Taboriten und den konservativen Utraquisten, die sich weiterhin als Teil der Papstkirche verstanden. Die Brüdergemeinde war – jedenfalls ursprünglich – pazifistisch, tolerant und lehnte die Ausübung von staatlicher Gewalt ab; später hielt man Verteidigungskriege für erlaubt und näherte sich dem Calvinismus an. Komenský besucht Schulen der Unität; mit 19 Jahren verlässt er die Heimat und geht zum Studium an die in voller Blüte stehende reformierte Hochschule nach Herborn. Es folgt eine Studienreise nach Amsterdam und Heidelberg; innerhalb kurzer Zeit legt sich der junge Student eine erstaunliche theologische und philosophische Bildung zu; vom spanischen Humanisten Juan Luis Vives über den utopischen Staatsphilosophen Tomasso Campanella bis zu Francis Bacon – er hat sie alle gelesen; Descartes kennt er sogar persönlich. So klein die mährische Heimat erscheinen mag – der Blick ist, gerade wegen der Verbindungen zu den Calvinisten in allen Ländern, gesamteuropäisch.
Von 1614 bis 1621 arbeitet Komenský als Lehrer in Mähren; er heiratet, wird zum Priester der Brüderunität ordiniert, veröffentlicht kleinere Schriften. Dann, 1620, zerstieben mit der verlorenen Schlacht am Weißen Berg alle Träume der Protestanten in Böhmen und Mähren; mit dem Prager Blutgericht zeigen die Habsburger, wer nun das Sagen hat. Komenský lebt und arbeitet im Untergrund; nach dem Tode seiner Frau heiratet er erneut, 1626 wird er Vater einer Tochter. In diese Zeit fällt die Veröffentlichung seines ersten bedeutenden Werkes „Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens“; das darin abgebildete und bis heute immer wieder abgedruckte Labyrinth hat er selbst gezeichnet. Im Jahre 1628 – er latinisiert seinen Namen, wie es damals üblich war, und nennt sich nun Comenius – flieht er mit etwa tausend Mitgliedern seiner Gemeinde ins polnische Lissa, wo bereits eine kleine Brüdergemeinde besteht. Dort verbringt er die ruhigsten und fruchtbarsten Jahre seines Lebens als Lehrer, als Rektor des Gymnasiums und als philosophischer Schriftsteller.
Im Jahre 1632 wird er zum Bischof (Senior) gewählt. Seine pansophischen Ideen, die Vision einer Verbindung aller Wissenschaften und eines weltumspannenden Reiches des Friedens und des Wissens, kann er 1641 in London, Holland und Schweden vorstellen. Im Anschluss an diese Reise kommt er 1642 ins damals schwedische Elbing, wird Professor am Gymnasium der Stadt und nimmt am Thorner Religionsgespräch teil, das den Frieden zwischen den verschiedenen Konfessionen befördern sollte, aber bald scheiterte. Im Jahr des Westfälischen Friedens kehrt Comenius nach Lissa zurück; hier stirbt seine Frau, hier heiratet er ein drittes Mal und hier wird er schließlich zum leitenden Bischof der Brüderunität gewählt, deren endgültigen Untergang er voraussieht und betrauert. Für vier Jahre geht er dann nach Ungarn, wo er auf Einladung des Fürsten Sigismund Rákóczi das Schulwesen in dessen Residenz Sárospatak reformiert. Dort entsteht das Werk, das ihn für alle Zeiten berühmt machen wird: „Orbis sensualium pictus“, die immer wieder aufgelegte Mutter aller bebilderten Elementar-Schulbücher. Im Jahre 1654 kehrt Comenius noch einmal nach Lissa zurück; zwei Jahre später wird die Stadt von Katholiken erobert und von polnischen Soldaten in Brand gesetzt. Comenius verliert seine Bibliothek und seine gesamte Habe, kann aber mit seiner Familie fliehen; er gelangt nach Amsterdam, wo er Privatschüler unterrichtet und schließlich stirbt; im nahen Naarden wird er begraben.
Die Brüderunität hat den Dreißigjährigen Krieg nicht überlebt – was sich heute so nennt, sind spätere Gründungen. Seinen Bischofstitel hat Comenius an seinen Enkel Daniel Ernst Jablonski weitergegeben, der reformierter Hofprediger in Berlin war und gemeinsam mit Leibniz die Brandenburgische Societät der Wissenschaften begründete, die spätere Preußische und heutige Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften – über Jablonski ist die Bischofswürde 1737 an Nikolaus Ludwig Grafen Zinzendorf übergegangen, den Gründer der heutigen Herrnhuter Brüdergemeine. Zwei spätmittelalterliche Messkelche aus dem Besitz von Comenius wurden bis 1945 von der Deutsch-reformierten Gemeinde in Lissa verwendet und sind heute im Besitz einer evangelischen Wuppertaler Kirchengemeinde, wo sie weiterhin benutzt werden. Comenius’ Grab ist seit 1937 ein Mausoleum mit einem angeschlossenen kleinen Museum und wird pro Jahr von einigen tausend Touristen besucht.
Der Leichnam, zwei Kelche: viel mehr an materiellem Nachlass gibt es nicht. Der geistige Nachlass ist gewaltig, die Wirkung jedoch gespalten. Einerseits ist sie immens: Comenius ist der erste, der eine Pädagogik vom Kind her entwirft – mit Recht ist ein Programm der Europäischen Union zur Zusammenarbeit von Schulen nach ihm benannt. Andererseits haben die schlimmen Zeiten – vielleicht auch seine Stellung zwischen Renaissance und Aufklärung – seine Gebundenheit an die Theologie die Wirkung seiner zukunftsweisenden pansophischen Ideen behindert. Dass sein Enkel Johann Theodor Jablonski mit dem „Allgemeinen Lexicon der Künste und Wissenschaften“ 1721 ein Realwörterbuch im Sinne der der Aufklärung herausbrachte, zeigt, in welche Richtung der Impuls des Comenius letztlich zielen musste – dafür war seine Zeit, dafür war auch er noch nicht reif.
Was bleibt, ist der Ruf zum universalen Frieden und zur Verständigung, gegründet auf Bildung. Das gilt für alle Zeiten, gute, schlimme und weniger schlimme – wie die unsrige. Das Motto des Comenius beschreibt diesen Ruf in zwei Sätzen, die ohne einander nicht zu denken sind. Der Aufruf zur Gewaltlosigkeit braucht das Wissen darum, dass die Dinge fließen, dass sie ihre Zeit haben und brauchen – das kann man bei Heraklit nachlesen und beim Prediger Salomo und es entspricht der Erfahrung. Dieses Wissen, diese Erfahrung aber münden unweigerlich in der Forderung, solches Fließen nicht durch Eingreifen zu verändern und zu behindern: durch Eingreifen in die natürlichen Zyklen, in den Austausch der Gedanken und in die freie Entwicklung zur individuellen Persönlichkeit: Gewalt sei ferne den Dingen!
Schlagwörter: Dreißigjähriger Krieg, Johann Amos Comenius, Johann Theodor Jablonski, Peter Eberlein, Unitas fratrum, universaler Frieden