23. Jahrgang | Nummer 24 | 23. November 2020

Fundsache Riemann

von Detlef D. Pries

Es gibt sie mancherorts: Telefonzellen, die zu Leihbüchereien wurden, auch einfache Bücherkisten oder Regale in Gestalt eines aufgeschlagenen Buches. Man stellt hinein, was man selbst nicht mehr zu brauchen glaubt, weil die heimischen Bücherschränke zu bersten drohen. Und schaut neugierig danach, was andere aussortiert haben. Neben manchem, was früher unter Schund- und Schmutzliteratur lief, findet sich darunter bisweilen etwas, das Interesse weckt und zumindest zum Blättern einlädt.

Unlängst hatte jemand fünf Schiller-Bände in einem Büchertauschregal im Berliner Villenviertel Wendenschloß abgestellt. Die „Entsorger“ waren zum Blättern offenbar nicht mehr gekommen; denn in einem der Bände versteckte sich auf dünnem, vergilbtem Papier ein amtliches Schreiben vom 2. März 1949. Der Rat der Stadt Leipzig in Person des Stadtdirektors Ott vom Nachrichten- und Verkehrsamt bat den Adressaten um ein Vorwort zu einer „Gedenkmappe“, die anlässlich des 200. Geburtstages Johann Wolfgang Goethes erscheinen solle. Ein solcher Prolog mache sich erforderlich, um den schon vorliegenden Text der Gedenkschrift zu retten. Denn das Manuskript, verfasst von Walter Gilbricht, sei „nach vielen Irrfahrten“ der Ablehnung durch die „Kommandantur“ – vermutlich die sowjetische – verfallen, „weil es nur den Bürger Goethe würdigt“. Verlangt werde die Würdigung der „Zeitgestalt“, Goethe müsse vor allem „als Sprachschöpfer, als Mensch, der die Menschheitskultur bereichert hat“, dargestellt werden. Das Vorwort möge diesen Forderungen Rechnung tragen. Überdies erscheine es zweckmäßig, Gilbrichts Text „noch etwas zusammenzustreichen“.

Warum dieses Goethe betreffende Schreiben ausgerechnet in Schiller-Bänden verborgen wurde, bleibt ein Rätsel. Der Empfänger des Briefes jedenfalls, Professor Robert Riemann, machte sich – um Eile gebeten – unverzüglich an die Arbeit, denn am Briefrand und auf der Rückseite notierte er mit Bleistift bereits seine Kürzungsvorschläge. Zu streichen seien „alle Ausführungen, die Goethe entschuldigen oder verteidigen. So etwas ist in einer Gedächtnisfeier am allerwenigsten am Platze. Überhaupt aber ist Goethe dafür zu groß. Man schweigt einfach davon. Viel einfacher ist es, die zu tadeln, die ihn verkehrt gefeiert haben …“

Neugierig darauf, was wohl aus dieser Gedenkschrift geworden war, machte ich mich auf die Suche im weltweiten Netz – und wurde fündig: Im August 1949 erschien die Arbeit unter dem Titel „Der Feuerkugel-Goethe“. Während sich Riemanns Vorwort der Frage widmete, was „wir Deutschen Goethe für unsere innere Entwicklung“ verdanken, hatte Gilbricht die Leipziger Zeit des jungen Dichters beschrieben, der 16-jährig in sein Klein-Paris kam und die Stadt an seinem 19. Geburtstag verließ – ohne Abschied zu nehmen von Käthchen Schönkopf, seiner Leipziger Liebschaft. „Kein Mädgen hat Sie am Ärmel gehalten“, wettete ein Offizier danach mit dem Dichter – und durfte seinen Wetteinsatz von 10 Talern behalten.

Dies geklärt, blieb die Frage, wer der „verehrte Genosse Riemann“ war, der mit seinem Vorwort die Schrift vor dem „Njet“ der Kommandantur gerettet hatte. Auch das ließ sich ergründen: Robert Riemann, 1877 geboren in Bielefeld, aufgewachsen in Wiesbaden und im Gymnasiastenalter mit seinen Eltern nach Leipzig gekommen, empfand die Umgebung der sächsischen Stadt zwar zunächst als „gänzlich reizlos“ und den ortsüblichen Dialekt als „verdorbenes Hochdeutsch“, doch hielt es ihn wesentlich länger als Goethe unter den Leipzigern, deren Bildungstrieb er lobte. Riemann promovierte 1901 mit „Goethes Romantechnik“, wurde Lehrer, Literaturhistoriker, Publizist und Herausgeber. Wie Carl von Ossietzky gehörte er dem freidenkerischen Deutschen Monistenbund an, der von den Faschisten verboten wurde.

In Leipzig gibt es heute eine Riemannstraße, die heißt aber nicht nach Robert, sondern nach dessen Vater, dem Musiktheoretiker Hugo Riemann (1849–1919). Die Namensgebung hat ihre Geschichte: Als die Nazis 1939 die „Spittastraße“ tilgten, weil der Namenspatron – auch ein Musikgelehrter – jüdische Vorfahren hatte, kamen sie auf die Idee, statt seiner einen „Arier“ gleicher Profession zu ehren, nämlich Hugo Riemann. Was sie dabei nicht bedachten: Riemanns Sohn Robert, vormals Studienrat an der Leibnizschule und ehrenamtlicher SPD-Stadtrat, war auf ihre Order bereits 1933 zwangspensioniert worden. Die Nazizeit überlebte er als anonymer Prospektschreiber und Herausgeber für einen Verlag, zuletzt am Bodensee.

1946 kehrte er nach Leipzig zurück und wurde zum Rektor seiner alten Schule berufen. Die Riemannstraße war unterdessen, schon im Mai 1945, auf Befehl der vorübergehenden US-amerikanischen Verwaltung erneut zur Spittastraße geworden. Erst 1947 wurde auch Hugo Riemann wieder ein Straßenschild gewidmet – das der vormaligen Albertstraße. Sohn Robert, der als Stadtverordneter zeitweilig dem „Straßenbenennungsausschuss“ vorsaß, erinnerte sich später:

„Sehr zu Unrecht hat man behauptet, ich sei die Seele der ganzen Umbenennung gewesen […] Die Stadt empfing einfach von Berlin aus die Weisung, mehr als hundertfünfzig Namen militaristischen und nazistischen Charakters durch andere zu ersetzen. Wir bevorzugten zunächst Widerstandskämpfer und Opfer des Faschismus, aber diese Namenreihe war bald erschöpft.“ Da sei er, Riemann, auf den Einfall mit den Dichtern gekommen: Die Buchhändlerstadt Leipzig habe so viel an Dichtungen verdient, dass sie mit dieser Ehrung eine Dankesschuld abtrug: Balzacstraße, Cervantesweg, Defoestraße, Don-Carlos-Straße, Jack-London-Straße, Stauffachenweg, Shakespearestraße … Damit nicht genug: „…  ein Musiker verlangte Berücksichtigung der großen Komponisten, der Maler Schwimmer die seiner Kunstgenossen, und ein alter Naturwissenschaftler, Professor Möbius, wurde herangezogen, damit auch Physik, Technik und Medizin zu ihrem Rechte kamen.“ Energisch wehrte Riemann sich gegen die Behauptung, die Leipziger hätten sich in ihrer Stadt nicht mehr zurechtgefunden, „weil Riemann die Straßen umgetauft hat“. Nur für etwa drei Dutzend Straßennamen sei er verantwortlich. „Die Riemannstraße, die meinen Vater ehrt, habe nicht ich vorgeschlagen, sondern Albert Sachse, der nach mir den Vorsitz im Umbenennungsausschuß bekam.“

Das und vieles mehr liest man in der Autobiografie „Dummheit und Einsicht – aus meinem Leben“, die Robert Riemann im achten Lebensjahrzehnt schrieb (eine erste war 1943 bei einem Bombenangriff auf Leipzig verbrannt) und die er wohl gerne veröffentlicht gesehen hätte. Den Wunsch erfüllte ihm postum Enkel Tord Riemann, Physiker von Beruf, der die Aufzeichnungen seines Großvaters aus dem handschriftlichen Manuskript übertrug und sie in wesentlichen Teilen ins Internet stellte – wo ich sie aufspürte. Der Autor weiß vergnügliche Episoden aus der Familiengeschichte zu erzählen, er würdigt seinen berühmten Vater, schildert Erlebnisse als Thomaner, Student und Soldat im Ersten Weltkrieg. Nach dem Inhaltsverzeichnis zu urteilen, fehlen der Internet-Fassung leider drei Kapitel aus der Zwischenkriegszeit.

Von ausgiebigen Ausflügen in die klassische Literatur wechselt Riemann zu seiner Sicht auf die Umbrüche in den späten Vierzigern. Ihn hatte man nicht „zwangsvereinigen“ müssen, er bejahte die Einheit von KPD und SPD und stellte sich in den Dienst der neuen Ordnung, wenngleich er „selbstverständlich an Einzelheiten und gelegentlich auch an der Besetzung der Posten Anstoß“ nahm. Aus seinen vergnüglich zu lesenden Bekenntnissen ist nicht zuletzt der Durst des von den Faschisten zum Schweigen gezwungenen Intellektuellen nach gesellschaftlicher Anerkennung zu lesen. Sicherlich sind Riemann in der frühen DDR Enttäuschungen nicht erspart geblieben – sein feinsinnig-humorvoller Rückblick Ende der 50er Jahre ist jedoch ohne Bitternis. Selbstironisch beendet er im letzten Kapitel die Schilderung der Gratulationscour zu seinem 80. Geburtstag 1957 mit den Worten: „Ich hatte keine Feinde mehr, ich war eine ehrwürdige Antiquität.“ Seine letzten Lebensjahre – Riemann starb 1962 – verbrachte er in Berlin-Wendenschloß, was den Brieffund im dortigen Büchertauschregal erklärt.