23. Jahrgang | Nummer 23 | 9. November 2020

Die Corona-Krise und Europas nukleare Selbstverteidigung

von Wilfried Schreiber

Es gehört zu den besorgniserregendsten Begleiterscheinungen der Corona-Krise, dass sich die Beziehungen zwischen den Großmächten gravierend verschlechtert haben. Man kann es auch genauso gut anders herum formulieren: Die sich in den letzten Jahren ohnehin verschärfenden Beziehungen zwischen den geopolitischen Hauptrivalen haben mit der Pandemie eine weitere Zuspitzung erfahren. Dabei wäre es logisch gewesen, dass sich alle Welt zusammenschließt, um die Menschheitsherausforderung einer Pandemie gemeinsam zu bewältigen. Das hätte viel Zeit, sehr viel Geld und vor allem weniger Opfer gekostet. Aber so sind wir nun einmal: Es ist uns nichts zu schade, um unser eigenes Selbstverständnis als Nabel der Welt auszuleben. Genauer gesagt geht es um das Selbstverständnis des transatlantischen Westens als Ganzes, seine geopolitische Führungsposition zu behaupten und die Rivalen niederzuhalten. Koste es, was es wolle.

Man braucht nur den Fernsehapparat anzuschalten oder die Zeitung aufzuschlagen, um von den Mainstream-Medien genau diesen Eindruck als politisches Lebenselixier vermittelt zu bekommen. Man kann sogar in wissenschaftlichen Studien nachlesen, dass uns eigentlich nichts anderes übrig bleibt, als aufzurüsten und unsere Nachbarn ostwärts von NATO und EU-Grenze durch Androhung nuklearer Vernichtung von einem Angriff auf den Westen abzuschrecken.

Man ahnt, dass offensichtlich auch die politischen Wissenschaften ihre Grenze haben. Das hier gemeinte Beispiel betrifft eine aktuelle Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), dem Brain Trust der Bundesregierung zur Vorbereitung außenpolitischer Entscheidungen. Es handelt sich um die SWP-Studie Nummer 17 vom September 2020 zum Thema „Europa schaffen mit eigenen Waffen?“ und dem Untertitel „Chancen und Risiken europäischer Selbstverteidigung“. Der Autor ist Dr. Eckhardt Lübkemeier, ein ehemaliger Botschafter und Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe EU/Europa.

Die Studie argumentiert übrigens durchaus sachlich und logisch nachvollziehbar – wenn man denn die Ausgangsprämisse einer akuten Bedrohung als bare Münze nimmt. Im Mittelpunkt steht dementsprechend die Selbstverteidigung „Europas“. Dass damit nur das westliche Europa – also die Europäische Union – gemeint ist, sei hier nicht überbewertet. So ist nun einmal das Selbstverständnis vieler Diplomaten unseres Landes – wie das der meisten deutschen Politiker überhaupt. Lübkemeier seien durchaus auch die vielen Konjunktive „müsste“, „könnte“, „sollte“ zugute gerechnet. Angesichts der Interessenvielfalt innerhalb der EU muss halt vieles vage bleiben. Realistisch ebenfalls seine Ausgangshypothese: „Der alte Westen ist tot – was tun?“ Der Autor erläutert, dass die alte transatlantische Gemeinsamkeit zwischen den USA und dem westlichen Europa faktisch nicht mehr existiert. Die USA sind dabei, sich neu zu orientieren. China ist für die USA wichtiger als Europa. Das wird auch in Zukunft so bleiben – wer immer Präsident der USA sein wird. Veränderungen in der Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands und der EU sind also unerlässlich. Dem kann man nur zustimmen. Aber wohin soll es gehen? Wie umgehen mit den großen Rivalen: Kooperation oder Konfrontation?

Lübkemeier – und man kann wohl sagen, auch die SWP als Regierungs-Think Tank insgesamt – schwören uns ein auf harte Zeiten. Etwas vereinfacht kann man das folgendermaßen zusammenfassen: Deutschland und die EU werden militärisch bedroht. Die potenziellen Gegner sind China und Russland. Der Hauptbösewicht ist Putin mit seinem aggressiven Russland. Europa – also die EU – muss aufrüsten. Und zwar so, dass es zur Selbstverteidigung in der Lage ist. Dazu bedarf es einer „engeren Integration, ausreichender militärischer Fähigkeiten, einer tauglichen Strategie und einer entschlossenen politischen Führung“.

Damit kommen wir zum zentralen Punkt der ganzen Problematik: „Die EU bedarf zu ihrer Selbstverteidigung einer eigenständigen nuklearen Abschreckungsfähigkeit.“ Das ist des Pudels Kern. Denn die USA und Großbritannien gelten mit ihrem Nukleararsenal nicht mehr als funktionssichere Schutzmächte. Die EU braucht also selbst Atomwaffen. Die Einzelheiten müssen noch geklärt werden. Dabei lässt Lübkemeier keinen Zweifel, dass es letztlich darum geht, mit französischer Hilfe zu einer „integrierten nuklearen Abschreckung“ zu kommen.

Wie auch immer die aussehen mag, dürfte es sehr fraglich sein, so etwas auf deutschem Boden durchsetzen zu wollen, ohne auf den grundsätzlichen Widerstand der Friedensbewegung zu stoßen. Die prinzipielle Ablehnung der Atombewaffnung hat in Deutschland Tradition und ist gewissermaßen das einigende Band der Friedenskräfte über alle sozialen, politischen und weltanschaulichen Differenzen hinweg. Dazu kommt, dass es starke völkerrechtliche Bedenken für das Projekt eines eigenen europäischen Nuklearschirms geben würde.

Da wäre in erster Linie die Gültigkeit des „Zwei-plus-Vier-Vertrages“ von 1990, der deutsche Beteiligung an einer europäischen Nuklearbewaffnung ausschließt. Darüber hinaus hat inzwischen der Atomwaffenverbotsvertrag der Vereinten Nationen eine neue Bedeutsamkeit erlangt. Am 25. Oktober bestätigte Honduras als 50. Mitgliedsland die Ratifizierung dieses Vertrages. Damit ist die letzte Bedingung erfüllt, dass der Vertrag 90 Tage nach diesem Schritt in Kraft treten kann. Natürlich wäre es naiv zu glauben, dass damit die in der Welt vorhandenen Kernwaffen von allein verschwinden würden. Aber das von einer Staatenmehrheit der Weltgemeinschaft beschlossene und vertraglich bindende Kernwaffenverbot ist nicht mehr zu ignorieren. Keine Institution dieser Welt – ob und wie viele Kernwaffen sie besitzt – kommt nunmehr um diesen rechtskräftigen Vertrag herum.

Man kann Lübkemeier nur zustimmen, wenn er unter Bezug auf eine Aussage der Bundeskanzlerin zu der Schlussfolgerung kommt, dass es einer tabufreien Debatte über die Rolle des Militärischen bedarf – für ein Europa, das „sein Schicksal in die eigenen Hände nimmt“. Diese tabufreie Debatte muss aber in der Erkenntnis münden, dass das Schicksal Deutschlands und der EU nicht in die Hände von Militärs oder hegemoniesüchtigen Politikern gelegt und insbesondere nicht von der Bedrohung durch einen Atomkrieg bestimmt werden darf. Deutschland und die EU sollen eine starke Zivilmacht sein. Und die muss als Brücke zwischen den geopolitischen Rivalen und als Ausgleich zwischen den USA und dem neuen Riesen China fungieren.

Lübkemeier aber schlägt eine „transatlantische Statusqualität“ vor. Das heißt, Deutschland und die EU sollen in der geopolitischen Auseinandersetzung weiter an die USA und ihre perspektivlose Politik der Konfrontation gebunden bleiben und ihre Rolle als getreue Vasallen mit einer höheren Eigenbeteiligung weiter spielen. Die Grundprinzipien der bewährten Außenpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr werden damit fahrlässig über Bord geworfen.

Am Schluss seines ausdrücklichen „Plädoyers für eine europäische Selbstverteidigung“ kommt der Autor zu dem Schluss: „Politischer Wille müsste den Weg freimachen“. Das ist zweifellos folgerichtig: Aber nicht Konfrontation und Streben nach Regime-Change dürfen den politischen Willen unserer Staatenlenker bestimmen sondern die Ideen der Kooperation und einer multilateralen Partnerschaft. Das muss nicht den Verzicht auf das uns liebgewordene Wertesystem bedeuten, aber auch nicht die Erwartung, dass alle Welt nur nach dem westlichen Gesellschaftsmodell leben soll. Die Bereitschaft zu Multilateralismus und gleichberechtigter Kooperation würde aber sehr wohl den Verzicht voraussetzen, zu den Herren der Welt gehören zu wollen. Dieser Anspruch hat Deutschland schon zweimal an den Rand des Untergangs geführt. Einen dritten Versuch, nunmehr als fragwürdiger Hegemon der Europäischen Union und gestützt auf das fragile Instrument nuklearer Abschreckung, könnte für Deutschland das endgültige Ende bedeuten. Auch für die Europäische Union.