23. Jahrgang | Nummer 23 | 9. November 2020

„Bauen, graben, pflanzen“

von Bettina Müller

Die freundliche Bedienung im Klever Stadtcafé in der Kavarinerstraße legt uns den obligatorischen Corona-Meldezettel auf den Tisch. Wir sind prinzipiell ausfüllwillig und haben auch nicht vor, mit „Minnie Mouse“ oder so zu unterschreiben, doch das Pamphlet ist in holländischer Sprache und die Rückseite ist leer. Sind wir aus Versehen in den falschen Zug eingestiegen und doch schon in den Niederlanden, das nur wenige Kilometer von Kleve entfernt liegt? Doch alles ist gut, das ist definitiv das ausgesuchte Ziel der heutigen Tagestour ins deutsch-niederländische Grenzgebiet. Dort wo die niederländischen Nachbarn eben allgegenwärtig sind: von der „Beatrix-Straße“ über die „Brabanter Straße“ bis hin zum Niederländischen Konsulat. Fast jeder dritte Passant spricht diese andere Sprache. Aber wer zum Duivel ist eigentlich dieser „Kuckuck“, der in Kleve sogar sein eigenes Museum hat?

Der Klever Bahnhof könnte eigentlich in jeder x-beliebigen deutschen Stadt stehen. Und auch die gewollt moderne Architektur an der Herzogsbrücke über das nicht gerade üppige Gewässer „Kermisdahl“, einem alten Rheinarm, mit den schicken Bars und Cafés am Ufer ist eher austauschbar. Doch auf dem Weg in die Innenstadt lockt in der Ferne schon mal ein interessanter, martialisch anmutender Turm, der in seiner Düsternis mit den immer näher rückenden schwarzen Regenwolken konkurriert. So ein Gebäude wäre bei Mittelalterfesten der Hit. Man müsste den Turm aber erst erklimmen, bevor man dann wieder ganz nach unten in die Katakomben muss und dort zur Belohnung die riesigen Spanferkel im dunklen Burgkeller serviert bekommt, rustikal-nonchalant das Holzbesteck hinter sich wirft und danach als Notfall mit Fettleber zum Onkel Doktor muss.

In dem Turm ist heute ein geologisches Museum mit Stein-Funden vom Niederrhein untergebracht, und die Schwanenburg, so der Name des ganzen Ensembles, ist das schon von weitem sichtbare Wahrzeichen der Stadt. Von der ursprünglichen Anlage aus dem 11. Jahrhundert ist nichts erhalten geblieben und auch der Turm wurde erst im 15. Jahrhundert gebaut. Auf dem Stadtplan sieht man gut die rundförmige Anordnung der Straßen des originären Ortskerns, der sich einst unter anderem um den Vorgängerbau der heutigen Burg im Schatten des Großen Heidbergs gebildet hatte.

Von der mittelalterlichen Mauer der 1242 mit dem Stadtrecht versehenen Ansiedlung sind nur wenige Reste an verschiedenen Stellen übrig geblieben. Warum? Was war da los in Kleve, das sich damals mit „C“ schrieb? Hatten die Klever Grafen ihre Stadt nicht im Griff, trotz der langen Regierungszeit? „Graf Nr. 1“ war um 1020 Rutger von Flandern, der Stammvater aller ehrwürdigen Grafen von Kleve. Geheiratet wurde fleißig innerhalb des Adels und so entwickelte sich im 16. Jahrhundert durch die Verbindung zwischen den Herzogtümern Kleve, Jülich und Berg ein großes Machtpotential, das auch den Wohlstand der Stadt förderte. Die amourösen Verbindungen reichten sogar bis ins ferne England, weil Anna von Cleve im September 1539 einen Ehevertrag mit dem englischen König Heinrich VIII. unterschrieben hatte. Der kannte seine Braut gar nicht persönlich, hatte sich in ihr von seinem Hofmaler Hans Holbein gemaltes Porträt verliebt, doch bei der leibhaftigen Begegnung kamen keine romantischen Gefühle auf, so dass die Ehe kurze Zeit später annulliert wurde. Heute kann man es dem fülligen Tudorkönig und seiner Kurzzeitbraut nachtun, die Schwanenburg ist auch Sitz des Amts- und Landgerichts Kleve, man kann dort also heiraten. Sehr wahrscheinlich wird sich das Brautpaar für das Hochzeitsfoto dann in die „Klever Gärten“ verlustieren, die als „Europäisches Gartendenkmal“ gelten.

2007 in einem Wettbewerb von renommierten Gartenexperten zu Deutschlands zweitschönstem Park Deutschlands gekrönt, sind sie Teil der Park- und Gartenanlagen, die der gärtnerisch visionäre Johann Moritz von Nassau-Siegen (1604–1679) schuf. Johann Moritz war der Statthalter des Großen Kurfürsten von Brandenburg, weil nach dem jülich-klevischen Erbfolgestreit, der durch die Kinderlosigkeit des letzten Herzogs, Johann Wilhelm (1562–1609) ausgelöst worden war, das Herzogtum Kleve an das nicht gerade um die Ecke liegende Brandenburg-Preußen fiel. Das blieb bis 1815 so. Noch heute zeugen Orte wie zum Beispiel die „Kleveschen Häuser“ im Landkreis Oberhavel in Brandenburg von dieser Verbindung.

Und Johann Moritz von Nassau-Siegen wollte damals „seine“ Residenzstadt zu etwas ganz Besonderem machen, und das konnte man damals am Besten mit raffinierter Gartenkunst. Berlin und Versailles? Die sollten mal schön vor Neid erblassen. Die Planung der barocken Gartenanlage wurde ab 1647 bis zu seinem Tod zu seiner Lebensabschnittsaufgabe, für die er den holländischen „Stararchitekt“ Jacob van Campen engagierte.

Gemächlich kann man zu Fuß stadtauswärts die Tiergartenallee in Richtung Gartenensemble entlang wandern – zur Linken lädt der Reichswald zum Wandern ein – und die feudalen Villen aus der Zeit bewundern, als die Stadt noch „Bad Cleve“ hieß. 1741 hatte man am Springerberg eine Mineralquelle entdeckt, um die sich Kuranlagen rund um das Kurhaus – heute das „Museum Kurhaus Kleve – entwickelten. Es ist vor allem durch seine Sammlung mit dem Nachlass des Bildhauers Ewald Mataré bekannt, nennt aber auch Objekte von Joseph Beuys sein eigen.

Im circa zehn Kilometer entfernten Wasserschloss Moyland ist unter anderem das Joseph-Beuys-Archiv untergebracht.Wanderfreudige Menschen können sich auf dem „Voltaire-Weg“ von Kleve aus zu Fuß dem beeindruckenden gotischen Schloss nähern. Der französische Philosoph war ab 1740 mehrmals auf Moyland und auch auf der Schwanenburg Staatsgast des Königs von Preußen. Er zeigte sich ziemlich begeistert von der Klever Gartenkunst.

Gleich neben dem Museum Kurhaus beginnt dann die fürstliche Gartenpracht, die der Visionär und sein hypergründaumiger Gärtner schufen. Das so genannte „Amphitheater“ am Springenberg mit Tempel, Terrassen und Teichen ist klassischer Ausgangspunkt für Erkundungen der Anlage im westlichen Teil der Stadt, souverän überwacht vom „Eisernen Mann“ des Künstlers Stephan Balkenhol. Die 1794 zerstörte Skulptur in schwindelnder Höhe wurde 2004 anlässlich des 400. Geburtstags von Johann Moritz wieder aufgebaut. Endlos weit schweift der Blick von der Anhöhe über das Gartenparadies mit seinen schnurgeraden Kanälen, die zusätzlich verlängernd wirken. Überall grünt es mit voller Pracht. Der unweit des Kurhauses gelegene Forstgarten, vom preußischen Kammerpräsidenten Julius Ernst von Buggenhagen von 1782 bis 1793 als „Neue Plantage“ angelegt, strotzt ebenfalls nur so vor frischem Grün in allen Schattierungen. Uralte und seltene Bäumen, über 150 an der Zahl, wie der Urweltmammutbaum, die Flatterulme oder der Riesenlebensbaum, zeugten von der dendrologischen Sammelleidenschaft der damaligen Zeit, waren in gewisser Weise kraftvolle Statussymbole, die der Stadt weiteres Prestige verliehen.

Auch östlich der Stadt war der unermüdliche Johann Moritz schwer zugange, ließ dort auf einem großen Areal den „Alten Park“ anlegen, schuf künstliche Aussichtshügel und sternförmige Wege bis hin zum Papenberg, der noch heute einen einzigartigen Blick auf die Stadt Kleve bietet. Johann Moritz werkelte wohl ständig an der grünen Perfektion seines Gartenreichs, überliefert ist sein Ausspruch: „Bauen, graben, pflanzen, lasst’s Euch nicht verdrießen, denn die nach Euch kommen, werden’s noch genießen.“

Zurück in der geschäftigen Fußgängerzone der Innenstadt wird dann endlich ein Geheimnis gelüftet: „Der Kuckuck“ heißt korrekt eigentlich Barend Cornelis Koekkoek (1803–1862), ein holländischer Landschaftsmaler, der sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts an der Kavarinerstraße ein Palais als Wohn- und Atelierhaus bauen ließ, in dem heute eine Dauerausstellung über den Künstler untergebracht ist. Die niederländischen Nachbarn sind zwar zum Greifen nahe, aber vieles weiß man eben doch nicht über sie.