Am 14. November versammelten sich in der Heilig-Kreuz-Kirche im Berliner Ortsteil Kreuzberg – unter strenger Einhaltung geltender Coronaregeln – Verwandte, Freunde, Kollegen und Weggefährten, um Abschied von Otfried Nassauer zu nehmen. Ruth Misselwitz, Pfarrerin im Ruhestand, begrüßte den Kreis, sprach einleitende Worte und führte durch den Nachmittag, an dem Teilnehmer sich unter anderem zu verschiedenen Aspekten von Otfrieds Wirken äußerten. So erinnerte etwa Xante Hall, Campaignerin der deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW), an „Otfried und die Atomwaffen“, und Hans Misselwitz, Staatssekretär im Außenministerium der letzten DDR-Regierung, an „Otfried, den Berater“. Nachfolgend dokumentiert ist die Reminiszenz von Stephan Stuchlik, Korrespondent für Verteidigungs- und Sicherheitspolitik im Hauptstadtstudio der ARD.
Ich bin gebeten worden, ein paar Worte über Otfrieds Bedeutung für den Journalismus zu sagen, seine Wichtigkeit für uns alle, egal, bei welchen Medien wir arbeiten.
Als ich darüber nachgedacht habe, was ich sagen wollte, fiel mir auf, dass vieles, was ihn für uns wichtig und unersetzbar machte, untrennbar mit seinen Eigenschaften zusammenhängt, mit seinem unverwechselbaren Charakter, mit der Art und Weise, wie er war.
Otfried war uneitel – Ich glaube, das kann man mit Fug und Recht behaupten und das ist in unserer Zunft, wo Eitelkeit Einstellungsvoraussetzung ist, eine erstaunliche Eigenschaft. Für uns war es ein Problem, das ein paar Minuten dauerte. Wenn man ihn für das Fernsehen interviewte und er in der Wohnung erst umständlich sein weißes Sakko suchen musste. Für ihn war es ein ewiges Problem: Er bestand in vielen Fällen weder auf Namensnennung, noch auf dem Copyright einer Idee.
Das führte dazu, dass er einer der wichtigsten, vermutlich auch einflussreichsten deutschen Experten der Sicherheitspolitik war, ohne dass die breite Öffentlichkeit seinen Namen kannte. Viele Fernsehbeiträge von Magazinen wie Frontal 21, Monitor, Panorama und Report Mainz wären ohne seine Denkanstöße gar nicht erst entstanden, geschweige denn fertig geworden, Debattenbeiträge in Fachzeitschriften zitierten „Expertenmeinungen“, wo doch die Wahrheit gewesen wäre, dass es zuallererst und allein Otfried Nassauers fachkundige Meinung war. Man musste „Streitkräfte und Strategien“ im NDR hören oder Zeitschriften wie Das Blättchen lesen, um mitgeteilt zu bekommen, wie der Autor hieß, der da die scharfsinnige Argumentation vertrat.
Otfried war ein Überzeugungstäter – Ihm war die Sache immer wichtiger als seine Person. Er vereinte ein unglaubliches Fachwissen mit dem Willen, Menschen klar zu machen, was Aufrüstung eigentlich bedeutet und wozu Waffenexporte führen können. Nein, um es genau zu formulieren, er hatte sich das Fachwissen eigentlich genau und nur deswegen mühsam erarbeitet. Waffensysteme und militärische Strategien waren ihm ein Herzensanliegen, gerade, weil er ihnen gegenüber absolut kritisch eingestellt war.
Er hatte etwa nicht nur als erster die Nuclear Posture Review gelesen, er kannte auch die entscheidenden Passagen, hatte schon mit Fachleuten weltweit gesprochen und überließ dieses Fachwissen Menschen wie uns, wenn er der Meinung war, wir könnten es unter ein breiteres Publikum bringen. Er freute sich über noch so kleine Debatten, die in der Folge von Artikeln, Hörfunk- oder Fernsehbeiträgen entstanden, und vergaß darüber oft, seinen Beitrag angemessen in Rechnung zu stellen.
Sein Wissen war unbezahlbar, leider aber auch oft unter- oder unbezahlt.
Denn: Otfried war großzügig – Viele Kolleginnen und Kollegen, auch ich, griffen auf ihn als wandelndes Lexikon und Sparringspartner zurück: Wenn es unterschiedliche Zahlen über das französische Militärprogramm gab, Otfried kannte sie, wusste, wer welche in die Welt gesetzt hatte und auch noch aus welchen Gründen. In einem Gebiet, dass wenigen Spezialisten wirklich zugänglich ist, sorgte er damit bei Journalistinnen und Journalisten für Schneisen von Verständlichkeit. So ein Grundwissen gab er umsonst ab, da kostete er kein Geld.
Eins aber kostete er: Otfried kostete Zeit.
Otfried war sperrig – Durchschnittliche Telefonate mit ihm dauerten zwei Stunden, er widersprach, korrigierte, kramte Details aus allen Ecken, zündete sich die nächste Zigarette an, widersprach und korrigierte wieder, er hatte Zeit, Rüstung ist ein weites und kompliziertes Feld. Ich erinnere mich noch gut an einen Fernseh-Beitrag über den türkischen Einmarsch in Nordsyrien, der mich fast an den Rand eines Nervenzusammenbruches gebracht hat, ich wollte nicht schon wieder in Berlin anrufen, um zu hören, dass alles militärstrategisch noch komplizierter ist, als es sowieso schon war, während in der Redaktion die Uhr tickte.
Rückblickend glaube ich, ganz ehrlich, dass diese Sperrigkeit eine seiner wertvollsten Eigenschaften war. In einer Welt des Journalismus, in der es viel um Eitelkeit und Schnelligkeit geht, war er jemand, der um der Sache willen kompromisslos auch noch um die letzte Formulierung kämpfte.
„Erst ist man ungeduldig und dann ungenau“, sagte er einmal zu mir, als ich ein Telefonat beschleunigen wollte. Damals habe ich mich über den Tadel sehr geärgert, heute ist es das Otfried-Zitat, das ich hierher mitbringe, ich habe über diesen Satz zuletzt viel nachgedacht.
Otfried war aus der Zeit gefallen – Er lebte in seiner eigenen Welt aus Zigarettenrauch, Papierstapeln und alten Computern mit knarrenden Festplatten. Er lebte mit und von seinem Fachgebiet. Er war im besten Sinne altmodisch. Andersdenkenden gegenüber hart in der Sache, aber fair im Umgang. Die Tatsache, dass ihn nicht nur Vertreter der Bundeswehr, sondern sogar Vertreter der Rüstungsindustrie, gegen die er doch eigentlich kämpfte, respektierten und achteten, sagt viel über Otfried aus.
In einer sicherheitspolitischen Welt, in der die angeblichen Realisten die Debatte bestimmen, war er eine der wenigen journalistisch vernehmbaren Stimmen, die konsequent Werte aus der Friedensbewegung vertrat, Werte, die heute vielen aus der Zeit gefallen erscheinen, aber eigentlich aktueller sind denn je. Er war jemand, den man nicht als Träumer hinstellten konnte, weil er immer mit Fakten konterte.
Sein Wissen, noch mehr aber seine unbeugsame Haltung werden vielen Journalisten und unzähligen Redaktionen fehlen. Vielen von uns fällt das jetzt Schritt für Schritt auf.
Gestern saßen wir im Kollegenkreis zusammen, um eine Sendung zu „Deutschlands Sicherheitspolitik nach den US-Wahlen“ zu diskutieren. „Es gibt doch keinen ernstzunehmenden Experten“, sagte eine Kollegin in der Diskussion,“ der nicht mehr deutsche Verantwortung und höhere Verteidigungsausgaben fordert. Und diese Diskussion über nukleare Teilhabe ist doch längst durch.“
Noch vor wenigen Wochen hätte ich ihr Otfrieds Telefonnummer in die Hand gedrückt.
Lieber Otfried, Du wirst schmerzlich vermisst.
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