23. Jahrgang | Nummer 21 | 12. Oktober 2020

Neu zu entdecken: Leonhard Frank

von Mathias Iven

Die Geschichte des Michael Vierkant war seine Geschichte, die autobiographische Erzählung seines Lebens. Links wo das Herz ist – diesen Titel hatte er dem Buch gegeben. Distanziert, in der dritten Person schreibend, blickte er in die Vergangenheit: „Sein Leben war das eines kämpfenden deutschen Romanschriftstellers in der geschichtlich stürmischen ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Seine Bücher sind Bildnisse seines Innern. Er hat sich von Jugend an um Dinge gekümmert, die ihn nichts angingen, und ist der Meinung, daß Menschen, die das nicht tun, die Achtung vor sich selbst verlieren müssen; daß sie moralischen Selbstmord begehen.“

Diese Zeilen stammen aus der Feder von Leonhard Frank. Einstmals gehörte er zu den bedeutendsten Schriftstellern Deutschlands. Seine Bücher erzielten zu seinen Lebzeiten hohe Auflagen, wurden ins Englische, Französische, Spanische, Russische übersetzt und zum Teil verfilmt. Doch erst jetzt, fast sechzig Jahre nach seinem Tod, erscheint die erste umfassende Biographie. Vorgelegt hat sie die Journalistin Katharina Rudolph. Um es vorweg zu sagen: Diese großangelegte und inhaltlich wohl kaum noch zu übertreffende Arbeit ist mehr als nur eine bloße Lebensbeschreibung oder die Darstellung eines heute zu Unrecht vernachlässigten Werkes. Präsentiert wird ein Epochengemälde, das bislang unerschlossene Dokumente aus rund fünfzig Archiven präsentiert. Zudem wird einer wichtigen Stimme des 20. Jahrhunderts wieder Gehör verschafft.

Erinnern wir uns: Wer war eigentlich dieser, wie ihn Rudolph tituliert, „Rebell im Maßanzug“? Geboren wurde Leonhard Frank 1882 in Würzburg. Das Lebensgefühl seiner fränkischen Heimat sollte sein Schreiben in vielerlei Hinsicht bestimmen. Rudolph betont in diesem Zusammenhang: „Kaum eine andere Würzburger Erinnerung hat Franks Wesen so tief geprägt wie seine Schulerfahrungen; der prügelnde, erniedrigende Lehrer und die durch ihn hervorgerufene existentielle Verunsicherung hinterließen in Franks gesamtem Werk tiefe Spuren.“ Er wollte und musste raus aus diesem Milieu, wollte etwas werden. Etwas, wie es in seinem ersten Buch Die Räuberbande hieß, „was eine demütigende, untergeordnete Stellung ausschloß“.

Nach der Schule schlug er sich an verschiedenen Orten mit Gelegenheitsjobs durch. Im Winter 1903 kam er für einige Wochen nach München. Während dieser Zeit erwachte in ihm die „große Sehnsucht, Maler zu werden“. Aber nicht nur einer von vielen wollte er sein, sondern „zweifellos der berühmteste von allen“. Im Frühjahr 1905 war es endlich soweit: Ohne nennenswerte künstlerische Vorbildung bestand Frank die Aufnahmeprüfung an der Münchner Akademie der Bildenden Künste. Da die Akademie jedoch zu sehr an tradierten künstlerischen Auffassungen festhielt, besuchte Frank parallel die 1891 in Schwabing gegründete Ažbe-Schule. Anton Ažbe, Sohn eines slowenischen Bauern, galt als herausragender Pädagoge, zu dessen Schülern unter anderem Kandinsky und Jawlensky gehörten.

Im Frühjahr 1909 verließ Frank die bayerische Hauptstadt Richtung Berlin. Er hatte erkannt, so seine spätere Darstellung, dass sein Talent zum Malen nicht ausreiche. Daraufhin habe er „keinen Strich“ mehr getan und – neben ein paar kleineren, 1912/13 veröffentlichten Erzählungen – an der Räuberbande gearbeitet. Als dieser Roman im Sommer 1914 erschien, schrieb Max Brod in der Zeitschrift Das literarische Echo: „In der Tat, dies Erstlingsbuch zeigt einen fertigen, ganz eigenwüchsigen Dichter, dem so ziemlich alles gerät, was er mit seiner sehr gegliederten Prosa anpackt.“ Von nun an ging es bergauf. Bereits ein halbes Jahr nach Erscheinen wurde Frank der Fontane-Preis zugesprochen. In der Berliner Volks-Zeitung konnte man dazu lesen: „Mit diesem Roman hat sich ein junger Autor von ganz besonderer Kraft der Darstellung in die deutsche Literatur sehr glücklich eingeführt und in die Reihe unserer ersten Dichter gestellt.“

Durch Unterstützung seines Arztes Ludwig Binswanger konnte der alles Militärische ablehnende Frank vom Kriegsdienst befreit werden und Deutschland im Frühjahr 1916 verlassen. Im Schweizer Exil, so Katharina Rudolph, nahmen „[s]eine gesellschaftskritischen Überlegungen der Vorkriegszeit […] konkrete Formen an, und er wollte nicht mehr nur Schriftsteller sein, sondern auch politischer Aktivist“. Ganz in diesem Sinne schrieb er seinem Verleger Anton Kippenberg im Mai 1918: „Ich habe, wie Sie wissen, nie um des Dichtens willen geschrieben; sondern um Zustände kritisch zu gestalten und menschenwürdige Zustände zum Ziele zu setzen.“ Anfang Dezember 1917 erschien in Zürich Franks Novellensammlung Der Mensch ist gut. Schon zwölf Jahre bevor Remarque mit Im Westen nichts Neues Weltruhm erlangen sollte, avancierte Franks heute nahezu vergessenes, 1918 mit dem Kleist-Preis ausgezeichnetes Buch zu einem der bekanntesten Antikriegswerke seiner Zeit.

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges kehrte Frank aus dem Exil zurück. „Er wollte dabei sein, jetzt, da in Deutschland eingetreten war, was er ersehnt hatte: die Revolution.“ Doch nicht nur das. Er „versuchte vielmehr“, so fasst es Rudolph zusammen, „auf Stimmung und Bewusstsein der vom Krieg traumatisierten Menschen einzuwirken“. Als er jedoch den „Versuch, seine erträumte sozialistische Gesellschaft zu verwirklichen“, scheitern sah, verließ er München und reiste nach Berlin. Was in den folgenden Jahren passierte, liegt weitgehend im Dunkeln. Nachweisen lassen sich Aufenthalte in Frankfurt, Würzburg und Wien. Gemeinsam mit seiner Frau Lisa, die nur wenige Monate darauf sterben sollte, kam er schließlich um die Jahreswende 1922/23 nach Berlin und ließ sich in der Charlottenburger Bismarckstraße 12 nieder.

Acht Jahre hatte Frank an seinem Roman Der Bürger gearbeitet, der im Dezember 1923 erschien und von dem bis 1933 in Deutschland fast 100.000 Exemplare verkauft wurden. Anders als Johannes R. Becher, der 1926 einen Bruch in Franks künstlerisch-politischer Entwicklung nach der Veröffentlichung von Der Mensch ist gut verortete, sieht Rudolph die Zäsur erst mit dem Erscheinen von Der Bürger: „Politisches sollte fortan, zumindest für eine gewisse Zeit, nicht mehr im Zentrum seiner Aufmerksamkeit stehen.“

Den Zenit seiner schriftstellerischen Laufbahn erreichte Leonhard Frank zwischen 1928 und 1932. Mit der in Anlehnung an Shakespeares Romeo und Julia gestalteten Novelle „Karl und Anna“, deren Filmfassung unter dem Titel „Heimkehr“ am 29. August 1928 im 1200 Sitze fassenden Kino „Gloria-Palast“ am Kurfürstendamm erstmals zur Aufführung kam und die als Theaterstück am 16. Januar 1929 an sechzehn deutschen Bühnen gleichzeitig uraufgeführt wurde, feierte Frank den größten Erfolg seines Lebens. Er hatte es geschafft: Wohlstand und gesellschaftliche Anerkennung wurden ihm zuteil. „Geld“, so würde er sich später wehmütig erinnern, „kam aus allen Himmelsrichtungen“.

Doch dann der Bruch. Wie so viele Gegner des Nationalsozialismus ging er 1933 ins Exil: „Ich habe mich nie politisch betätigt, aber sie hätten mich totgeschlagen, weil ich aus meinem Pazifismus nie einen Hehl machte.“ Seine Bücher wurden verbrannt und 1934 stand er auf der dritten Ausbürgerungsliste. Ein zweites Mal emigrierte Frank in die Schweiz, die für ihn, wie für die meisten anderen Emigranten, nur eine Zwischenstation war. Erst nach fast zwanzig Jahren sollte er Deutschland wiedersehen.

1937 wurde er aus der Schweiz ausgewiesen, reiste nach Frankreich, kam nach dem Ausbruch des Krieges in ein Sammellager für feindliche Ausländer, wurde freigelassen, erneut inhaftiert und konnte sich im Oktober 1940 über Spanien und Portugal nach Amerika retten. Das Land blieb ihm fremd, der Erfolg blieb aus. Als er im September 1950 zurückkehrte, fuhr er zunächst nach Würzburg, schon wenige Wochen später zog es ihn nach München. Beide deutsche Staaten hofierten ihn: die DDR, die ihn vereinnahmen wollte, ließ in großer Stückzahl Nachauflagen seiner Bücher drucken und zeichnete ihn 1955 mit dem Nationalpreis 1. Klasse aus. In der BRD interessierten sich nur wenige für sein Werk, dennoch verlieh man ihm dort 1957 das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik. Als er von der Verleihung nach Hause kam, so berichtete seine dritte Ehefrau Charlott, nahm der nach wie vor gesamtdeutsch denkende Frank die Schatulle für das Bundesverdienstkreuz, legte den DDR-Nationalpreis dazu und sagte: „Das ist meine Wiedervereinigung.“

Katharina Rudolph: Rebell im Maßanzug – Leonhard Frank. Die Biographie, Aufbau Verlag, Berlin 2020, 496 Seiten, 28,00 Euro.