23. Jahrgang | Nummer 21 | 12. Oktober 2020

Als Autor im Virusland

von Erhard Weinholz

Rasch ist der Sommer vergangen. In den letzten Augusttagen war der Himmel tiefblau, kräftiger Wind aus Südwest fuhr übers Land. Wo die Schatten hinfielen, war es schon kühl.“ So heißt es in einer meiner Geschichten, und so war es auch dieses Jahr. Er ist vergangen, das C-Virus aber blieb. Das kann ja nicht ewig so weitergehen, hatten wir im Mai oder Juni noch gedacht. Doch wohin hätte es verschwinden können? Die Mund-Nase-Maske gehört inzwischen zum Alltag. Wenn man damit nicht gerade seine Atemwege schützt, muss man sie als stilbewusster Mensch am linken Unterarm anheften. Anfangs war sie mir höchst lästig, inzwischen habe ich sie sogar lieben gelernt. Denn das Leid der Welt, an dem wir so oder so teilhaben, prägt vor allem die Partien um den Mund, die jetzt dank Maske verdeckt bleiben. Zum Ausgleich werden andere Teile wichtiger: Viele ausdrucksvolle, schöne Augen sieht man nun.

In einer anderen Geschichte, „Großberliner Möglichkeiten“, habe ich mich einst als jener junge Dichter porträtiert, der ich gern gewesen wäre. Die Sicherheitsorgane bescheinigten mir eine wachsende Neigung zum Skeptizismus und Nihilismus. Zu Recht, doch ist unter dem Druck der Umstände ein Hang zum Eskapismus und Mystizismus hinzugekommen. Und so liegt neben meinem PC-Tisch neuerdings das Evangelium nach Johannes. Ich war nämlich auf dem Alexanderplatz in eine Evangelisation geraten: Jemand sprach in ein Megaphon, „Kinderschänder … Hölle … Satan …“, mehr habe ich nicht verstanden, und dann bekam ich von einem anderen ein Bibel-Heftchen in die Hand gedrückt. Und weil ich es nicht gleich wegwerfen wollte, habe ich es eingesteckt. Reingeschaut habe ich noch nicht, aber vielleicht hilft es auch so.

Dies zum Mystizismus. Eskapismus dagegen ist wohl im Spiel, wenn mir plötzlich Texte für Sprechchöre einfallen, mit denen die FDJ beim nächsten Pfingsttreffen (zum Beispiel) durch die Straßen ziehen könnte: „Ob gestern, heute, morgen, in unserm Land sind wir geborgen“. Oder „Wenn wir planen, wenn wir bauen, immer kühn nach vorne schauen“. Man flieht nicht immer ins Bessere.

Noch etwas zum Thema Masken: „Sie trugen Masken, die sie selbst nicht sahen/ und waren so einander tief verborgen/ was sich im Traum gelöst, versiegelte der Morgen/ und ein Vergessen stand auf ihrem Munde.“ Das stammt von Emmy Ball-Henning, aus einem ihrer Briefe an Hugo Ball. Die ersten Zeilen davon hatte ich der oben erwähnten Geschichte als Motto vorangestellt: Sie feierten ein Fest, und niemand wußte es/ es war vorüber als sie es empfanden.

Sollen wir es dem Virus anlasten, dass wir dieses Jahr auf dem Balkon reineweg gar nichts gepflanzt oder gesät haben? Nur den russischen Wein haben wir gegossen. Dass er keine Trauben trägt, ist sicherlich von symbolischer Bedeutung. Zuletzt haben wir noch das Franzosenkraut gewässert, das jetzt im Spätsommer spontan herangewachsen ist. Seit einiger Zeit blüht es sogar, ein kleiner gelber Knopf, von weißen Blütenblättern umrandet. Verschafft es uns ein Klein-Paris? Schon kommt, die Baskenmütze schräg auf dem Kopf, die Gauloise im Mundwinkel, ein Akkordeonspieler bei der kleinen Boulangerie um die Ecke, altbekannte Melodien ertönen, und über den Dächern steht wie eh und je der Eiffelturm. Da weiß man, wo man ist, sagt meine Freundin B., aber was verweist auf Berlin? Auf ganz Berlin, vermute ich, das Brandenburger Tor, speziell auf den Osten der Fernsehturm und der Funkturm auf den Westen. Der Funkturm und der Fernsehturm sind Freunde – wie einstmals Brecht und Becher. B. ist skeptisch. Oder wie Hacks und Müller? Das will sie schon eher gelten lassen.

Auch in schwierigen Zeiten erweitern wir beide unseren Wortschatz, sammeln seltene oder sonderbare Wörter und Wendungen, erschließen uns mit Hilfe unserer Wörterbücher Bedeutungen, wundern uns, was es so alles gibt. Neulich fand ich auf einem Etikett den Begriff Rollmopsabtropfgewicht. Aber da wir derzeit recht isoliert leben, ist es mir noch nicht gelungen, ihn ins Gespräch einzuflechten.

Das Virus als Firmenkiller, so etwa lautete eine Überschrift im Wirtschaftsteil einer der großen Tageszeitungen hierzulande. Tatsächlich habe ich gerade vor ein paar Tagen in einem Container nahe der Keibelstraße mehrere weggeworfene Büronachlässe entdeckt: Stühle, Tische, viele Aktenordner, manche voll, manche leer, dazu Geschirr, Gläser, eine Kochplatte, und in einer Ecke lagen allerlei A4-Bögen aus der Werkstatt der Haustechnik oder des Hausmeisters: „Bitte den Fahrstuhl nicht benutzen defekt – Service Firma ist informiert“ oder „Damen WC wegen Reparaturarbeiten vorübergehend geschlossen“ (zum Glück nicht für immer), „Wir danken für Ihr uns entgegengebrachtes Verständnis Ihr Serviceteam“. Die WCs und die Fahrstühle, das waren anscheinend die schwachen Stellen in diesem Bürohochhaus. Vielleicht, so dachte ich, kann man diese Aushänge für einen Büro-Roman nutzen, als Kapitelüberschriften sogar: „Achtung!!! Aufzug gesperrt“, das wäre sicherlich geeignet, ebenso „Müllhaus bitte hier nicht parken“ und „Bitte nach Benutzung spülen“. Nur verfasse ich leider keine Romane.

Hatten wir uns nicht vorgenommen, mehr den Kontakt zu Freunden und Verwandten zu pflegen? Öfter anzurufen als sonst, zu schreiben, wenn man sich schon nicht sehen konnte? Und wir haben es ja auch versucht. Aber wenn die andere Seite es nicht gleicherweise hält, gibt man es irgendwann auf. Briefe schreibt heutzutage sowieso fast niemand mehr. Wahrscheinlich bleibt auch von dieser Zeit nur eine Verlustgeschichte. Nicht anders als von all den Krisenzeiten zuvor. Und dass bessere Zeiten beginnen, wenn das Virus erledigt ist, kann man nicht erwarten. Es gibt doch diese vier Apokalyptischen Reiter: Krieg, Pest … und wer waren die anderen beiden? Muss ich mal bei Dürer nachschauen. Vielleicht kann man sich ja ein bisschen vorbereiten auf das, was eventuell als Nächstes kommt.