23. Jahrgang | Nummer 19 | 14. September 2020

Viktor Ullmann wiederentdeckt

von Thomas Behlert

Wenn sich die Befreiung vom Faschismus jährt und die damit verbundene Befreiung eines Konzentrationslagers, kann man erkennen, dass dies von Presse, Funk und Fernsehen, von Kulturheinis und Politikern nur halbherzig begangen wird. Muss halt gemacht werden, damit man sich wenigstens noch in diesem Punkt von der AfD abgrenzt. Bereits im Januar jährte sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zum 75. Mal und keiner kann sich jetzt im Spätsommer daran erinnern. Damit das nicht so bleibt, veröffentlichte Annika Treutler gemeinsam mit dem Rundfunk-Orchester Berlin und dem Dirigenten Stephan Frucht ein phänomenales Album, das in uns nachklingen soll. Schon lange war bekannt, dass die Faschisten viele jüdische Kulturschaffende ins KZ Auschwitz deportierten und dort elendig zu Grunde gehen ließen. „Durch den Holocaust wurde eine Generation förmlich ausgelöscht und ein Teil der Musikgeschichte ausradiert“, so die Musikerin Annika Treutler.

Treutler erhielt mit vier Jahren ihren ersten Klavierunterricht. Später absolvierte sie ein Diplom bei Prof. Matthias Kirschnereit an der Hochschule für Musik und Theater in Rostock. Nach einigen Meisterkursen und der Zusammenarbeit mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin, dem Orchester Montreal, dem Sinfonieorchester Prag und weiteren Orchestern aus Köln, Kanada und Potsdam verstärkte sie ihre solistische Tätigkeiten und widmete sich intensiv der Kammermusik. Sie trat bei ihrem eigenen Kammermusikfestival „SommerKlang“ mit vielen namhaften Künstlern auf und kümmert sich bis heute um die junge Generation Musiker. Gemeinsam mit dem Dirigenten und künstlerischen Leiter des Siemens Art Program Stephan Frucht hat die Künstlerin nun die Geschichte jüdischer Musik erforscht und ist dabei auf eine Vielzahl Musikschaffender gestoßen, die hervorragende Musik schufen, aber bis heute nahezu unbekannt sind. Sie nennt die Musiker und Komponisten Bohuslav Martinů, Pavel Haas und Viktor Ullmann, den sie mit einem Album allen Musikbegeisterten näher vorstellen möchte.

Mit den Aufnahmen von Klavierkonzert und zwei Klaviersonaten erzählt Annika Treutler Viktor Ullmanns Geschichte musikalisch auf neue Art und Weise. Wichtig ist ihr, dass die Erinnerung an den Komponisten wach gehalten und er gleichwertig geschätzt wird, wie die nicht verfolgten Kollegen aus der Zeit. Das Klavierkonzert op. 25 (1939) und die Klaviersonate Nr. 3 (1940) sollten von der ungarischen Pianistin Juliette Arànyi (geboren 1906, verschollen 1944) uraufgeführt werden. Die auf dem Album enthaltene dritte Klaviersonate war überschattet von den erfolglosen Bemühungen des Komponisten ins Exil zu gehen. 1942 wurde der Künstler nach Theresienstadt deportiert und fand vermutlich 1944 in den Gaskammern von Ausschwitz den Tod. Keines der Werke erlebte die Uraufführung durch Juliette Arànyi. Wer das vorliegende Album hört, erfährt Annika Treutlers Abtauchen in eine neue Welt der klassischen Musik. Ihr Klavierspiel entfaltet mit jedem Anschlag eine ganz besondere Sprache, die in einer eigenen Tonalität aufgeht. Ullmann, Schüler von Arnold Schönberg, baute mit jeder Note Spannungen auf, die nun eigene Wege gehen und dabei den Hörer auf eine Reise in die Traurigkeit mitnehmen. Es sind Anklänge anderer Komponisten zu vernehmen, und doch ist es Ullmann, der durch die Pianistin Treutler eine Seele bekommt. Die Klaviersonate op. 7 berührt inniglich und lässt das Herz schneller schlagen, denn der Komponist schuf sie in Theresienstadt, wo er zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Jahre interniert war. Überraschend ist, dass man einen positiven Geist spürt und kein bisschen Aggressivität und Düsternis zu erkennen ist. Man kann das schlimmste Regime besiegen, will uns Ullmann damit sagen. Die seinen Kindern gewidmete Sonate endet mit der Fuge über ein hebräisches Volkslied in strahlendem D-Dur mit B-A-C-H Zitaten. So gibt es ein Besinnen auf den Komponisten, der wohl Gott am nächsten ist. Man muss Annika Treutler dankbar sein, dass sie einen kleinen Teil aus Ullmanns Schaffen dem Publikum wieder zugänglich macht, zumal zahlreiche Werke des jüdischen Künstlers verschollen sind.

Annika Treutler: Viktor Ullmann piano concerto op. 25 – piano sonates no. 3 & 7, Berlin Classics / Edel Kultur.