Am späten Abend waren beide Herren blau. Denn Legations-Rath Goethe ließ sich nicht lumpen und den teuren alten Wein aus den Geschenksendungen seiner Frau Mutter in Frankfurt reichlich fließen. Schließlich war eine Berühmtheit zu Gast, die er verehrte als den „einzigen tragischen Schauspieler Deutschlands“. Sein Name: Hans Conrad Dietrich Ekhof.
Sechs Monate nach jenem Weimarer Januarabend anno 1778 im Gartenhaus an der Ilm, da Ekhof, ausgezehrt und ständig hüstelnd, dem jungen Kollegen sein Leben erzählte, war er tot. Mit 57 Jahren; Tuberkulose. In seinem Nachruf mahnte Goethe poetisch-pathetisch: „Wisset: Er schuf euch die Kunst und adelte den Stand – Orakel eures Spiels und Vorbild eurer Sitten.“
Conrad Ekhof war – für viele fatal in diesem Beruf – kein schöner Mann: zu kurz der Körper, schwächlich, die Schultern leicht verwachsen. Aber sein Kopf war schön: Schmales Gesicht, hohe Stirn, energische Nase und ein ebensolcher Mund, breit, mit Lippen nicht ohne Sinnlichkeit und doch mit Zügen von Bitternis. Und: Er war er gesegnet mit kraftvoller Stimme, scharfem Verstand, unerschütterlichem Selbstbewusstsein und eisernem Willen sowie einer phänomenalen Fähigkeit zur Verwandlung im Spielerischen (der Kunst) als auch hinsichtlich der Biographie. Die Metamorphosen dieses Kindes aus kleinsten Verhältnissen zum Partner von Geistesgrößen seiner Zeit (zum Beispiel Lessing) sind atemberaubend. Sie gelangen ohne Schulen: Ekhof war Autodidakt.
Geboren wurde er vor 300 Jahren, am 12. August 1720 in Hamburg. Sein Vater, ein Schmied, stand der Wissbegier seines Sohnes zwar wohlwollend gegenüber, ermöglichte gar den Besuch der Elementarschule, doch bereits mit 14 musste der Knabe selbst für sich sorgen. Er wurde Schreiber eines Postmeisters, den er alsbald verließ, um einem Anwalt in Schwerin zu dienen. Dort hatte er Zugang zu dessen Bibliothek und Muße genug zum Lesen. Wenige Jahre später aber gab der Umtriebige die wärmende Idylle auf und schloss sich, 19-jährig, den fahrenden Komödianten der Truppe von Friedrich Schönemann an.
Ein verwegener Entschluss, denn eine fragilere Existenz war kaum denkbar. Hinzu kam die Erbärmlichkeit der Theaterzustände. Das Repertoire der wandernden Bühnen – stehende gab es noch nicht – bestand aus heldischen Trauerspektakeln in steifen Versen, aus zotigen Possen und sentimental hingeschmierten französischen Tragödien. Es gehörte zur Kunst, „den Blick himmelwärts zu drehen, mit den Gliedmaßen zu fuchteln und den Mund so voll zu nehmen, dass kein menschenähnliches Wort herausfiel“.
All das war widerlich, lebensfremd, peinlich, empfand schon der Eleve Ekhof, der dann aber doch den so unbefriedigenden, unkünstlerischen, krank machenden Wandertheaterzirkus dreieinhalb Jahrzehnte durchhielt. Freilich, um zugleich unermüdlich am grundsätzlichen Umbau dieses Betriebssystems zu arbeiten. Schließlich kam er, da war er Mitte 50 und schon von der Krankheit gezeichnet, im Frühsommer 1774 mit der Seylerschen Truppe aus Weimar nach Gotha. Durch den Brand des Weimarer Schlosses war man mal wieder arbeitslos. In Gotha, hoch über der Stadt auf Schloss Friedenstein, hatten die Herrscher von Sachsen-Gotha-Altenburg ein intimes barockes Theater errichtet, eine Preziose, die noch heute bewundernswert intakt ist und bespielt wird (zwölf Kulissenschieber betreiben per Hand Wellbäume und Seilzüge). Es heißt verehrungsvoll Ekhof-Theater, denn der regierende Herzog ernannte Conrad Ekhof zum Chef seiner Hofbühne und ermächtigte ihn, dort das erste fest installierte deutsche Ensemble zu installieren – und: Theatergeschichte zu schreiben.
Unter diesen Bedingungen konnte Ekhof endlich intensiv an der Erprobung einer fundamentalen Erneuerung der Praxis arbeiten. Schließlich war es ihm eine lebenslange Herausforderung, ein neues Theater mit neuem Inhalt zu schaffen, das auch dem erwachenden bürgerlichen Selbstbewusstsein entsprach. Dieses moderne Theater war für ihn in der Überwindung des hohl dröhnenden Pathos der halbreformierten, in französisch-höfischer Konvention deklamierenden Neuber-Schule möglich – von den grassierenden Unsäglichkeiten der Schmiere ganz abgesehen.
Ekhofs Schlachtruf hieß „Nachahmung der Natur“. Damit meinte er nicht platten Naturalismus, sondern künstlerisches Formen der Wirklichkeit. Daraus erwuchs die realistische Tradition des deutschen Theaters. Echtheit der Empfindungen und Stärke des Ausdrucks in der Darstellung aller Stände sollten die Seelen erweichen und das Publikum dazu führen, sich auf den Brettern wiederzufinden und im Spiel eine Botschaft zu entdecken.
Ekhof war Künstler und Aufklärer, sah sich in eins mit Lessing, der von der Bühne herab Leidenschaften in Tugenden verwandeln wollte. Das Drama mit seinen Interpreten sollte als Erzieher der Deutschen dienen in einem deutschen Nationaltheater. Vermögende Bürger, etwa in Hamburg, oder aufgeklärte Aristokraten, etwa in Weimar oder Gotha, waren Feuer und Flamme und ließen sich die hohe Kunst einiges kosten. Herzog Ernst zahlte seinem Ekhof (der übrigens, sozial wie er war, einen Künstler-Pensionsfonds gründete) am Lebensende 16 Taler pro Woche; die Monatsmiete bei Hofrath Jäger betrug fünf. Doch da galt der Besessene bereits allgemein als „Vater der deutschen Schauspielkunst“.
Sein Weg war – wie der aller Neuerer – steinig. Das Umherziehen gehörte dazu. Seine schwerkranke Frau musste er pflegen. Hinzu kam der Dauerkrach mit den störrischen Kollegen Mimen. Es grenzte an Eselei, mit vorwiegend ungebildeten, aber meist ziemlich exzentrischen Kräften die Voraussetzungen seriösen Arbeitens durchzusetzen – Ekhof sprach vom Studium der Grammatik der Schauspielkunst. Darunter verstand er das Ausschreiben der Rollen (Rollenbücher) und das Vertrautmachen mit einem Regiekonzept sowie Textanalyse, Lese- und Bühnenproben, Ensemblespiel und ständige Kritik.
„Wenn der Autor“, schrieb er 1753 in seiner „Schauspielerakademie“, die leider nur wenige Kurse erlebte, „tief ins Meer der menschlichen Gesinnungen und Leidenschaften taucht, so muss der Schauspieler wohl nachtauchen, bis er ihn findet.“ Leider sei, gestand der Gestrenge (und Angefeindete), leider sei das Meer der Unbegabten weit und viele ersöffen beim Tauchen.
Ekhof erhob das Schauspielen vom Vagantentum in den Rang einer Kunst, die – Talent vorausgesetzt – studiert werden muss. Das Vorbild des Herz-und-Kopf-Schauspielers gab er selbst. Lessing gratulierte: „Er weiß Sittensprüche und allgemeine Betrachtungen, diese langweiligen Ausbeugungen eines verlegenen Dichters, mit einer Innigkeit zu sagen, dass das Trivialste Neuheit und Würde, das Frostigste Feuer und Leben erhält.“
Verständlich, dass Rath Goethe einem solchen keine Bouteille zu teuer war.
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