23. Jahrgang | Nummer 19 | 14. September 2020

Frauenpower Sassnitz 1945

von Dieter Naumann

Am 3. Mai 1945 fanden sich gegen 15.00 Uhr rund 200 Frauen vor dem Sassnitzer „Hotel am Meer“, dem damaligen Sitz des Inselkommandanten von Rügen, ein, um die kampflose Übergabe von Sassnitz zu fordern. Die Frauen ahnten, was ihrer Stadt drohte, wenn die wenigen noch auf Rügen befindlichen Einheiten, vor allem SS und Werwölfe der Hitlerjugend, sinnlos kämpfen würden, hatten sie doch die Folgen des Luftangriffs auf Sassnitz am 6. März erlebt, wussten das Hitler tot war und Sowjettruppen bereits in Stralsund saßen.

Darüber, wie es zur spontanen Demonstration der Frauen kam und welche Folgen sie hatte, gibt es unterschiedliche Berichte in der Literatur und von Angehörigen der Teilnehmerinnen.

In einem Beitrag des „Zirkels schreibender Arbeiter“ des Fischkombinats Sassnitz (am 4. Mai 1965 in der Ostsee-Zeitung veröffentlicht) wird beschrieben, dass die in die Kaserne Sassnitz-Dwasieden zwangsverpflichtete Margarete Jädke am 3. Mai 1945 Zeugin eines Telefonats wird, in dem die Verteidigung von Sassnitz „bis zum letzten Stein“ befohlen wurde. In der Mittagspause hastet Frau Jädke aus der Kaserne vorbei an Befestigungsanlagen und Frauen, die Panzergräben ausheben müssen, in die Stadt. Auf eine gute Bekannte stoßend, berichtet sie atemlos von dem Gehörten. Beide Frauen eilen von Haus zu Haus. Ihnen war nicht verborgen geblieben, dass SS-Leute und anderer Nazi-Größen zum Hafen fuhren, um sich auf dem Wasserweg aus dem Staub zu machen. Dafür sollten die noch verbliebenen Soldaten und die Stadt sinnlos geopfert werden?

In zwei Marschzügen formieren sich junge und alte, kräftige und gebrechliche Frauen, zum Teil mit ihren Kindern, dienstverpflichtete Frauen aus Putbus und einige Männer, vereinigen sich am Markt und marschieren zum „Hotel am Meer“. Inselkommandant war seit dem 12. oder 13. April 1945 Generalmajor Hans Voigt. Voigt war ab Ende Januar 1945 Kommandant des „Festen Platzes“ Arnswalde (heute Choszczno). Als er nach Feststellung der Einschließung der Stadt durch die Rote Armee am 12. Februar 1945 zur Kapitulation aufgefordert wurde, lehnte er dies ab und provozierte damit ein mehrstündiges verheerendes Artilleriefeuer, das starke Verwüstungen anrichtete. Die Gefahr der bedingungslosen „Verteidigung“ von Sassnitz durch Voigt war also durchaus real.

An der Spitze des Zuges der Frauen, von denen nur ein Bruchteil durch Recherchen des Stadtarchivs Sassnitz namentlich sind, werden in den meisten Quellen die Hausfrau Getrud Dueque, die Schneiderin Lotte Haß, die Lehrerin Margarethe Jädke und die Hausfrauen Lotte Schimmelpfennig und Hilde Wolter genannt.

Dass die ein hohes Risiko eingehenden Frauen – auch ziviler Ungehorsam konnte die Todesstrafe zur Folge haben – letztlich unbehelligt blieben, ist wohl vor allem durch das allgemeine Chaos der letzten Kriegstage in Sassnitz, die Vielzahl der entschlossenen Frauen und dadurch zu erklären, dass brave deutsche Frauen, die nach zwölf Jahren NS-Indoktrination auf die Straße gingen und Forderungen stellten, nicht zum gängigen militärischen Weltbild passten und es folglich kein Reaktionsmuster gab.

Am häufigsten wird beschrieben, dass die Frauen sich von den Posten nicht abweisen ließen und schließlich eine kleine Delegation zum „Gefechtsstand“ des Inselkommandanten durchgelassen wurde. Dieser, von der Situation wohl überrumpelt, berief sich zunächst auf die entsprechenden Befehle, versprach aber schließlich, über die Forderung der Frauen nachzudenken und ihnen am nächsten Tag seine Entscheidung mitzuteilen. Als die Delegation der Frauen am 4. Mai wieder am Hotel erschien, waren Voigt und die ganze militärische und politische Führung verschwunden.

In einer Version des Geschehens ist die Rede davon, dass NSDAP-Ortsgruppenleiter Franz Jacobi die Frauen wegen ihres Ansinnens am Hotel zur Rede stellen wollte und dafür eine Tracht Prügel verpasst bekam, ehe er sich absetzte. Eine weitere Variante geht davon aus, dass Voigt, als die Frauen ihre Forderung vorbringen wollten, gar nicht anwesend war, sondern nur der stramme Jacobi, für den das Treffen die bereits genannten Folgen hatte.

Leider fehlt bis heute am inzwischen umgebauten „Hotel am Meer“ eine Tafel, die an den Mut der Sassnitzer Frauen im Mai 1945 erinnert.