Ein Überleben an oder nahe dem Oberflächen-Nullpunkt, dem sogenannten Hypozentrum, der Explosion der US-Atombombe „Little Boy“ über Hiroshima am 6. August 1945 um 8.15 Uhr war praktisch ausgeschlossen, denn dort überschritt die Temperatur 4000 Grad Celsius, erreichte möglicherweise gar 6000 Grad. Und doch – eine Trauerweide (Salix babylonica) hat dieses Wunder zustande gebracht. Nur 370 Meter vom Hypozentrum entfernt und oberirdisch vollständig verbrannt, entwickelte sie sich aus ihrer Wurzel heraus völlig neu. „Eine Hymne an die alles überwindende Kraft des Lebens“, wie man in Japan formuliert.
Wer weiß denn sowas?
Zum Beispiel Stefano Mancuso, seines Zeichens Professor für Pflanzenkunde an der Universität Florenz, wo er dem Laboratorio nazionale di Neurobiologia Vegetable vorsteht. Mancuso leidet darunter, dass „die Pflanzen dieser Welt“ in der Wahrnehmung durch den Menschen ein – und in diesem Fall ist die Metapher quasi wörtlich zu nehmen – Mauerblümchen-Dasein führen: „Niemand beachtet sie gebührend, sie werden kaum erforscht und wir wissen noch nicht einmal annähernd, wie viele es überhaupt gibt, wie sie funktionieren oder welche Eigenschaften sie besitzen. Und doch könnte ohne sie keines von uns Tieren überleben.“
Um diesem Missstand breitenwirksam entgegenzutreten hat der Wissenschaftler seinem vor einigen Jahren erschienenen Bestseller „Die Intelligenz der Pflanzen“ nun ein weiteres Opus folgen lassen, in dem er insbesondere von erstaunlichen Fortpflanzungs- und Verbreitungsleistungen unterschiedlichster Arten berichtet, denn „was ihre Besiedlungsfähigkeit betrifft, macht den Pflanzen kein anderer Organismus etwas vor“; sie haben im Laufe der Evolution „alle Weltgegenden“ erreicht.
Auch in Sachen Langlebigkeit finden sich im Reich der Flora, der römischen Göttin der Blüte, die eigentlichen Methusalems unter den Vertretern belebter Materie. Da macht die Langlebige Kiefer (Pinus longaeva), von der es in den kalifornischen White Mountains ein Exemplar auf satte 4800 Jahre bringt, nur den Anfang. In Schweden wurde im Jahre 2008 eine Gemeine Fichte (Picea abies) entdeckt, die dort bereits seit unfassbaren 9600 Jahren steht. Doch all dies ist nichts im Vergleich zu einer 45 Hektar umfassenden Kolonie der Amerikanischen Zitterpappel (Populus tremuloides) im heutigen Bundesstaat Utah, „die aus einem einzigen, seit über 80.000 Jahren existierenden genetischen Individuum besteht“. Demgegenüber ist der Sachverhalt, dass der Baum im englischen Grantham, Lincolnshire, von dem der Apfel fiel, der Newton zur Formulierung seiner Gravitationstheorie inspirierte, immer noch steht, eigentlich keiner gesonderten Erwähnung wert.
In seinem Buch setzt sich Mancuso nicht zuletzt kritisch mit Auffassungen, Initiativen, Organisationen und Maßnahmen auseinander, die das Ziel haben, die natürliche oder vom Menschen verursachte „Einbürgerung“ (Ansiedlung und dauerhafte Verbreitung) von Pflanzen aus fernen Regionen in hiesigen Habitaten zu verhindern, aufzuhalten oder gar rückgängig zu machen. Dabei werden die Fremdlinge mit dem Attribut „invasiv“ stigmatisiert. Es sei aber, so Mancuso, zum Beispiel praktisch unmöglich, „die Ansiedlung einer Pflanzenart auf das Gebiet eines botanischen Gartens zu beschränken“, und zum anderen wäre die heutige europäische Landwirtschaft ohne „invasive“ Pflanzen wie etwa Mais (aus Mexiko) ebenso wenig vorstellbar wie die hoch geschätzte italienische Küche ohne Tomaten (aus Mittel- und Südamerika) oder Basilikum (aus Indien). „Die invasiven Arten von heute“, hält Mancuso vor dem Hintergrund natürlicher Entwicklungsprozesse den Öko-Puristen unserer Tage entgegen, „sind die einheimischen von morgen. Würde diese Erkenntnis nur etwas mehr beherzigt, könnte das viele Dummheiten verhindern, die beim Versuch begangen werden, ihre Ausbreitung zu verhindern.“
Stefano Mancuso: Die unglaubliche Reise der Pflanzen, aus dem Italienischen von Andreas Thomsen. Klett-Cotta, Stuttgart 2020 (2. Auflage), 153 Seiten, 22,00 Euro.
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