Der 1883 in Halle geborene Alfred Wolfenstein ist als expressionistischer Lyriker, als Wortführer einer aufbegehrenden Generation, bis heute hinlänglich bekannt. Bereits 1912 erschienen erste Gedichte in der Literaturzeitschrift Die Aktion, die dem Expressionismus zum Durchbruch verhalf. Mit Unterstützung von Robert Musil und Rainer Maria Rilke folgte 1914 sein erster Gedichtband „Die gottlosen Jahre“. In der von Kurt Pinthus herausgegeben Anthologie „Menschheitsdämmerung“ war er ebenfalls mit mehreren Gedichten vertreten. Die von Wolfenstein selbst herausgegebene Sammlung „Die Erhebung“ gilt als eine der wichtigsten Publikationen des literarischen Expressionismus.
In den 1920er Jahren war Wolfenstein dann vorrangig als Dramatiker und Übersetzer tätig. Für seine Rimbaud-Übertragung erhielt er 1930 den ersten Deutschen Übersetzerpreis. Damit ehrte ihn die Frankfurter Johann-Wolfgang-Goethe-Universität für seine Mittlerrolle zwischen den Nationalliteraturen. Wolfenstein gelang im März 1933 die Flucht nach Prag, wo er sich mit journalistischen Arbeiten über Wasser hielt. Zwei Jahre später flüchtete er nach Paris, doch auch hier verschlechterte sich die Situation der Emigranten immer mehr. Als die Wehrmacht einmarschierte, suchte er Unterschlupf im Süden Frankreichs. Es folgte ein Leben in der Anonymität. Trotz der Bemühungen von Stefan Zweig, Franz Werfel und Thomas Mann gelang es Wolfenstein nicht, nach Brasilien oder in die USA zu entkommen. Schwerkrank und unter falschem Namen kehrte er im Februar 1944 nach Paris zurück. Obwohl im August die französische Hauptstadt von den Alliierten befreit wurde, nahm sich Alfred Wolfenstein am 22. Januar 1945 in einem Pariser Krankenhaus das Leben.
Vor gut 30 Jahren gab der Kulturwissenschaftler Hermann Haarmann der Wolfenstein-Witwe Henriette Hardenberg (später Margarete Frankenschwerth, gestorben 1993) das Versprechen, die ihm übertragenen Rechte an den Wolfenstein-Übersetzungen zu nutzen, um diese vor dem Vergessen zu bewahren. Dieses Versprechen wird nun vom Büchner Verlag, der 2017 von Darmstadt nach Marburg gezogen ist, eingelöst. Mit der Reihe „Kleine Bibliothek der Weltliteratur“ werden seit 2018 die wichtigsten Übersetzungen von Wolfenstein einer interessierten Leserschaft wieder zugänglich gemacht. Auftakt der Reihe bildete die Übersetzung von Emily Brontës einzigem Roman „Wuthering Heights“, einem Meisterwerk der viktorianischen Erzählkunst. Mit „Hier schreibt Paris“ (Band 2) gab Wolfenstein eine viel beachtete Anthologie heraus, in der er 1931 Texte der literarischen Elite Frankreichs aus den 1920er und 1930er Jahren versammelte. Für ein deutsches Lesepublikum blickten die Zeitzeugen mit unterschiedlichen Auffassungen und Eindrücken auf die Metropole Paris. Band 3 brachte im Vorjahr die Rimbaud-Übersetzungen, für die Wolfenstein 1930 ausgezeichnet wurde.
Mit Band 4 folgte dieses Jahr eine Auswahl der Lyrik von Paul Verlaine, einem Vertreter des französisches Symbolismus, der mit seinem Werk die literarische Moderne maßgeblich prägte. Mit der sinnlichen Wahrnehmung, den verschiedenen Sprachbildern und ihrem rhythmischen Klangzauber stellen Verlaines Gedichte die Übersetzer bis heute vor große Herausforderungen. Wolfenstein versuchte mit seinen Übertragungen, die erstmals 1925 erschienen, der sprachlichen Musikalität der Gedichte sowie der Innensicht des Dichters gerecht zu werden. In einem Vorwort äußerte er selbst, in welchem Lichte er seine Arbeit sehen wollte: „Die Übertragungen wollen zu denen gehören, die […] etwa so entstehen, als ginge man an den Flügel und spielte, mit der eigenen Hand, Anderer Musik.“
Auf der Autorenliste der nachfolgend vorgesehenen Bände stehen unter anderem Gérard de Nerval, Edgar Allen Poe, Victor Hugo, Gustave Flaubert, Molière und Percey Shelley.
Hermann Haarmann (Hrsg.): Alfred Wolfenstein – Armer Lelian. Gedichte der Schwermut, der Leidenschaft und der Liebe von Paul Verlaine, Büchner Verlag, Marburg 2020, 128 Seiten, 20,00 Euro.
Schlagwörter: Alfred Wolfenstein, Hermann Haarmann, Manfred Orlick, Paul Verlaine, Übersetzungen