Am 2. Oktober 1920 verabschiedeten auf dem IX. Deutschen Pazifistentag in Braunschweig alle zwölf teilnehmenden Organisationen – darunter die Deutsche Friedensgesellschaft, der Bund religiöser Sozialisten, die Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit und der Deutsche pazifistische Studentenbund – folgende Resolution:
„Der Störenfried der Welt ist der Imperialismus, der dauernde Nahrung empfängt, so lange das natürliche Bedürfnis der Völker nach wirtschaftlicher Wohlfahrt nicht gestillt ist. Wirtschaftliche Wohlfahrt in der Welt kann nicht gedeihen, so lange wirtschaftliche Interessengruppen die Machtmittel der Staaten benutzen, um in ihrem engeren Wirtschaftsgebiet die Ausbeutung der Bürger anderer Staaten durch willkürliche Zuteilung von Rohstoffen und Sperrung von Absatzmärkten vorzunehmen.“
Der Völkerbund, so hieß es in der Resolution weiter, werde daher „den Frieden der Welt und deren materiellen und ethischen Wiederaufbau nur sichern, wenn seine Grundlage eine feste, den freien Wirtschaftsverkehr und die wirtschaftliche Gleichberechtigung aller Völker sichernde, auf den Bedarf der breiten Massen aller Völker eingestellte, von den Werktätigen und Verbrauchern selbstverwaltete Organisation der Wirtschaft ist. Diese Grundlage kann geschaffen werden, wenn der unwiderstehliche Druck der Hand- und Kopfarbeiter aller Länder durch ihre wirtschaftlichen und politischen Organisationen sie erzwingt. Als nächstes Ziel muss der Ausbau der vertraglich vorgesehenen wirtschaftlichen und sozialen Organe des Völkerbundes (jährliche Hauptversammlung aller Mitgliedstaaten zur Behandlung von Arbeitsfragen, Internationales Arbeitsamt, Wirtschaftliche Abteilung des Völkerbundes, internationale wirtschaftliche Kommissionen zur Verteilung von Rohstoffen und zur Regelung der Transport- und Finanzverhältnisse) im demokratischen Sinne zu wirklichen Selbstverwaltungskörpern der Produzenten und Consumenten gefordert werden. Um dieses Ziel vorzubereiten, haben sich sofort die pazifistischen Organisationen überall mit den Organisationen der Hand- und Kopfarbeiter in Verbindung zu setzen, um gemeinsam auf die Regierungen in diesem Sinne national und international einzuwirken.“
Verfasser dieses Textes ist Harry Graf Kessler, der auf dem Kongress auch einen der sieben Hauptvorträge hielt: „Der Völkerbund als Wirtschafts- und Arbeitsgemeinschaft“.
Harry Graf Kessler? Der 1868 in Paris geborene Schöngeist mit schweizerischen und britischen Wurzeln, dessen Mutter eine Freundin Kaiser Wilhelms I. war und der in Ascot, auf dem Hamburger Johanneum, in Bonn und Leipzig eine standesgemäße Erziehung erhalten hatte, ist heute eher als Kulturvermittler bekannt, als Sammler, Mäzen und Schriftsteller. Mit Henry van de Velde gehört er zu den Begründern des „Neuen Weimar“, als Propagandist des Deutschen Künstlerbundes stellte er sich gegen die konservative Kulturpolitik Wilhelms II. Gemeinsam mit Hugo von Hofmannsthal verfasste er das Libretto zu Richard Strauß’ Ballett „Die Josephslegende“; mit der von 1913 bis 1931 betriebenen Cranach-Presse setzte er für Jahrzehnte den Maßstab für künstlerisch hervorragende Buchgestaltung. Im Weltkrieg zunächst noch Vertreter weitreichender Annexionspläne, wandelt sich der Aristokrat mit bildungsbürgerlichem Hintergrund, der als Neu-Geadelter von der alten preußischen Elite kritisch beäugt worden war und im Diplomatischen Dienst nicht reüssieren konnte, zum Anhänger der Revolution und engagierten Republikaner; Zeugnis dessen ist gegen Ende seines Lebens die große Rathenau-Biografie von 1928. Nach Hitlers Machtergreifung ging er ins Exil, zunächst nach Paris, dann nach Mallorca, schließlich in die Nähe von Lyon, wo seine Schwester lebte; hier starb er Ende 1937, auf dem Père Lachaise ist er begraben.
Ideen zu einer Ordnung jenseits des Nationalen beschäftigten Kessler schon lange vor dem Krieg: Im April 1906 veröffentlicht er in Maximilian Hardens Zukunft einen Essay über Nationalität, der in den Sätzen gipfelt: „Deshalb ist es auch kein Gegensatz, ein guter Deutscher und ein ,guter Europäer‘ sein; ein Konflikt zwischen national und ,international‘ existirt nicht.“ Die als demütigend und politisch falsch empfundenen Friedensverträge von Versailles und St. Germain und die von USA-Präsident Woodrow Wilson bereits in den Völkerbund-Noten vom Januar 1919 ausgesprochene Absicht, Deutschland die Gleichrangigkeit mit den Siegermächten vorzuenthalten, lässt Kessler im Februar 1919 einen „Plan zu einem Völkerbunde auf Grund einer ,Organisation der Organisationen‘ (Weltorganisation)“ entwerfen; nicht Staaten sind hier die Träger der Weltorganisation, sondern internationale Organisationen verschiedenster Art. Eine weitere Stufe in Kesslers Beschäftigung mit der Völkerbundproblematik bilden die „Richtlinien für einen wahren Völkerbund“, in deren zweiter Auflage die Resolution vom 2. Oktober 1920 als Anhang abgedruckt ist. Diese Richtlinien, deren Leitsätze sich in komprimierter Form in der Resolution wiederfinden, gehen nun von einem Staatenbund aus, wie er seit Januar 1919 existiert, benennen aber seine grundlegenden Schwächen und fordern eine führende Rolle der Werktätigen.
Kessler sei kein Künstler, hat Hofmannsthal einmal notiert, sondern ein vermittelndes Genie. Seine Bemühungen um eine ästhetische Erziehung des Menschen jedoch waren zum Scheitern verurteilt, sein Selbstgefühl und sein Lebensstil gehören einer vergangenen Epoche an. Seine Idee einer wirtschaftlichen Globalisierung zum Nutzen aller aber, einer Art globalen Syndikalismus also, ist hochaktuell in Zeiten wirtschaftlicher Abschottung einzelner Staaten, vor allem aber gegenüber dem derzeitigen Störenfried der Welt: einem Imperialismus in Gestalt eines globalen Kapitalismus, der zuerst die Menschen, dann die Ressourcen und schließlich sich selbst zu verschlingen auf dem Wege ist.
Schlagwörter: Harry Graf Kessler, Hermann-Peter Eberlein, Imperialismus, Pazifismus, Völkerbund