23. Jahrgang | Nummer 17 | 17. August 2020

Mücke oder Mensch?

von Alfons Markuske

Die Menschen machen ihre eigene Geschichte,
aber sie machen sie nicht aus eigenen Stücken,
nicht unter selbst gewählten, sondern unter
unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und
überlieferten Umständen.

Karl Marx

Während unserer gesamten Geschichte
hat sie (die Mücke – A.M.) die Schicksale
von Nationen gelenkt, epochale Konflikte
entschieden und unsere Weltordnung mitgestaltet.

Timothy C. Winegard

Wenn jemand Belangloses weit über dessen nichtige Bedeutung hinaus aufbläst, macht er – so der Volksmund – aus einer Mücke einen Elefanten. Wer allerdings Timothy C. Winegards Monographie „Die Mücke“ gelesen hat, der weiß anschließend, dass die ach so einprägsame Metapher vom Insekt und dem Dickhäuter vor allem von einem zeugt: nämlich von der immer noch verbreiteten Unterschätzung „unseres“ – so des Autors Generalbefund – „tödlichsten Feindes“. Denn: Stechmücken hätten „während unserer relativ kurzen, 200.000-jährigen Existenz geschätzte 52 Milliarden von insgesamt 108 Milliarden Menschen ins Jenseits befördert“. Auch heutzutage rangierten diese Killer, vor allem der Arten Anopheles, Aedes und Culex, unter den menschlichen Todesursachen auf Rang 1 – mit (seit dem Jahr 2000) durchschnittlich zwei Millionen Opfern pro Jahr. Gefolgt vom Menschen selbst (Kriege, Verbrechen, Hinrichtungen, Unfälle et cetera), mit jedoch lediglich einer halben Million Tote per anno. Der mit jedem humanoiden Opfer durch die Medien erneut skandalisierte Hai hingegen bringt es im Jahresdurchschnitt nur auf statistisch vernachlässigbare 15 tödliche Attacken.

Die „Erfolge“ der Stechmücken basieren dabei zum einen auf ihrer weltweiten Verbreitung; mit Ausnahme Islands, der Seychellen, einer Handvoll französisch-polynesischer Mikroinseln, der Arktis sowie – von Winegard in seiner Aufzählung vergessen – der Antarktis sind Stechmücken überall beheimatet. Und zum anderen ist da ihre schiere Masse: Winegard beziffert die jährliche weltweite Gesamtpopulation an Stechmücken auf 110 Billionen Exemplare. Leider verrät der Autor die Quelle dieser wie manch anderer Zahlenangabe oder gar die Methode(n) von deren wissenschaftlicher Ermittlung nicht.

Freilich vermochte und vermag die Stechmücke ihre letalen Schneisen nicht auf direktem Wege zu schlagen, wohl aber durch die „hochentwickelten Krankheitserreger“, die (ausschließlich weibliche) Stechmücken übertragen, während sie sich am Blut des Menschen und anderer Lebewesen laben. Über 15 derartige Patogene sind es, die Anopheles, Aedis & Co. zu wahren Super-Spreadern machen und die sich auf drei Gruppen verteilen:

  • Viren: unter anderem Gelb-, Dengue- und Zika-Fieber;
  • Würmer: Filariose (Elefantiasis);
  • Parasiten: Malaria.

Lediglich sein Vorwort und das erste Kapitel – ganze 45 Seiten – benötigt Winegard, um diesen Horror sehr detailliert auszubreiten. Wobei man unter anderem auch noch erfährt, dass der Malaria-Erreger einen siebenstufigen Lebenszyklus durchlaufen muss, um seine Art zu erhalten, und dass er neben der Anophelesmücke als einziger Überträgerin noch mehrere Zwischenwirte benötigt, bei denen er mehrfach seine Gestalt wechselt und zum Beispiel „ein chemisches ‚Stich mich’-Signal ins Blut“ sendet, das seine Chance erhöht, per Blutentnahme durch Anopheles erneut aufgenommen zu werden. Schlussendlich mutiert der Erreger im Magen der Stechmücke ein letztes Mal, begibt sich dann in deren Speicheldrüsen und geht erneut an den Start, indem er die Antikoagulationsproduktion (Gerinnungshemmer) des Insekts hemmt. Dies minimiert die Blutentnahme der Mücke pro Stich, so dass sie öfter zustechen muss, um auf ihre benötigte Blutmenge zu kommen. Womit sich wiederum die Übertragungswahrscheinlichkeit auf den nächsten Zwischenwirt für den Malariaerreger erhöht. Highly sophisticated. Was von einem Schöpfer zu halten ist, der solche diabolischen Wechselwirkungen konstruiert hat, steht auf einem anderen Blatt. Winegard spekuliert in diesem Zusammenhang, dass Stechmücken „offenbar die Rolle eines Gegengewichts“ zukomme, „und zwar gegen ein unkontrolliertes menschliches Bevölkerungswachstum“.

Auf Winegards erste 45 Seiten folgen noch 18 weitere Kapitel und eine Schlussbemerkung (zuzüglich „Dank“, „Weiterführende Literatur“ und „Anmerkungen“), was das Opus insgesamt auf üppige 618 Seiten anschwellen lässt. Vielleicht etwas viel des Guten. Auch angesichts diverser Redundanzen, die ein kritischeres Lektorat ohne Substanzverlust hätte streichen können. Andererseits erfährt man in detailreicher Ausführlichkeit – um nur einige Beispiele zu nennen –, dass:

  • das Weltreich Alexanders des Großen deshalb so rasch zerfiel, weil der mit 32 Jahren überraschend an (vermutlich) Malaria starb;
  • Hannibal nach seinem grandiosen Sieg über die zahlenmäßíg weit überlegenen Römer bei Cannae nicht auch noch Rom eroberte, weil er für eine Belagerung der Stadt in den ihr vorgelagerten, Stechmücken verseuchten Pontinischen Sümpfen hätte lagern müssen;
  • die Malaria „einer von vielen Faktoren [war], die zur […] Dominanz des Christentums in Europa beitrugen“;
  • das „Malariagebiet an der Donau“ bei den „gnadenlosen Mongoleneinfällen im 13. Jahrhundert […] einen starken Verteidigungsriegel“ bildete;
  • Richard Löwenherz sich während des dritten Kreuzzuges ebenso mit Malaria infizierte wie Dschingis Khan bei seinen späteren Raubzügen;
  • Sir Francis Drake, Sieger über die spanische Armada, von der Malaria dahingerafft wurde; desgleichen Oliver Cromwell, der (zeitweise) Beseitiger der britischen Monarchie, und George Washington, einer der Gründerväter der USA;
  • die Stechmücke wegen „ihres unermesslich großen Einflusses auf die Entwicklung der Vereinigten Staaten […] einen Platz am Mount Rushmore“ verdiente und dass nicht zuletzt
  • selbst der globale Siegeszug des Kaffees „tief mit der Malaria verbunden“ ist, vulgo mit deren Überträgerin.

Auch Großbritanniens Nationalheld Horatio Nelson hatte sich während seines Dienstes in Indien mit Malaria infiziert, lebte aber zumindest „lange genug, um während der Napoleonischen Kriege auf seinem Flaggschiff HMS Victory in der Schlacht bei Trafalgar Unsterblichkeit zu erlangen“.

Vor allem aber geht Winegard der Geschichte des über Jahrtausende vergeblichen Kampfes des Menschen gegen die von Stechmücken übertragenen Krankheiten sowie gegen die Mücke selbst nach. Diese war allerdings überhaupt erst am Übergang zum 20. Jahrhundert wissenschaftlich als Überträgerin nachgewiesen worden. Heute weiß man, dass insgesamt nur einige Hundert von weltweit über 3500 Mückenarten als Krankheitsüberträger wirken.

Der Kampf gegen die Letzteren steht mit der erst seit wenigen Jahren erfolgreich angewendeten CRISPR-Methode zur zielgerichteten Veränderung der DNA von Lebewesen möglicherweise vor seiner finalen Phase. Die „Ausrottung der Stechmücke durch genetische Sterilisation“ ist damit nämlich in den Bereich des Machbaren, was allerdings seinerseits schwerwiegende Fragen nach längerfristigen Konsequenzen aufwirft. „Was würde geschehen, wenn wir Spezies ausrotten, die eine […] wichtige Rolle im globalen Ökosystem spielen?“ ist nur eine davon …

Bisweilen gehen dem Autor in seinem Bestreben, die Dichotomie von Mensch und Mücke nur ja so eindringlich und antagonistisch als irgend möglich zu dramatisieren, allerdings doch die Gäule durch. Etwa wenn Winegard schreibt, dass die Mücke „die Menschheit seit grauer Vorzeit mit ungemildertem Zorn (Hervorhebung – A.M.) angegriffen“ habe. Da fragt man sich unwillkürlich, was denn wohl das historische Ereignis gewesen sein mag, das diesen anhaltenden, nachgerade alttestamentarischen Zorn („Auge um Auge, Zahn um Zahn“) wohl ausgelöst haben mag. Oder wenn der Autor das eingangs zitierte Marx-Wort, das der materialistischen Geschichtsauffassung des Philosophen entsprang, zum Kronzeugen für die geschichtsgestaltende Wirkung der Steckmücke aufruft und diese „zum Motor der Menschheitsgeschichte“ – jedenfalls „mehr als jeder andere externe Faktor“ – kürt. Der entsprechend neu vermessene historische Ablauf der klassischen Antike liest sich dann so: „Nachdem Stechmücken den Griechen in den Perserkriegen einen Vorteil verschafft, zur Selbstzerstörung der griechischen Stadtstaaten im Peloponnesischen Krieg beigetragen, den Aufstieg Makedoniens begünstigt […] hatten, […] richteten sie nun ihren Stechrüssel nach Westen, […] wo sie sowohl zur Entstehung als auch zum Untergang des mächtigen Römischen Reiches beitrugen.“

Vor der menschlichen Spezies übrigens – so viel Trost ist denn doch – haben bereits zahllose andere Arten von Lebewesen unter den stechenden Plagegeistern gelitten; die ältesten, in Kanada und Myanmar aufgefundenen Exemplare – in Bernstein eingeschlossen – werden auf 80 bis 105 Millionen Jahre geschätzt …

Bliebe abschließend noch kritisch anzumerken: Dass Winegards Monographie über kein Sach-, Personen- und Ortsregister verfügt, ist ein schwerwiegendes Manko des Werkes.

Timothy C. Winegard: Die Mücke. Das gefährlichste Tier der Welt und die Geschichte der Menschheit, Terra Mater Books, Salzburg – München 2020, 618 Seiten, 32,00 Euro.