23. Jahrgang | Nummer 18 | 31. August 2020

Maidan, kein Maidan, Maidan … Belarus im August 2020

von Frank Preiß

Seit dem 9. August, dem Tag der Präsidentenwahl in Belarus, ist ein Land in den Fokus der internationalen Öffentlichkeit katapultiert worden, welches dort bislang eher als Randnotiz erschien.

In den Kommentaren und Reaktionen der meisten hiesigen Medien und der Politik wird das langjährige Mantra von der letzten Diktatur Europas, die nach einer Wahlfälschung unter der Wucht friedlicher Proteste zerfällt, ausgiebig traktiert. Sachliche Analysen und Informationen sind rar. Bundesfinanzminister Olaf Scholz ruft auch schon mal die Arbeiter der staatlichen Betriebe in Belarus zum politischen Generalstreik auf. In Brüssel erklärt die EU hastig, das Wahlergebnis nicht anzuerkennen. In dieses Gespinst wird ein sichtlich dicker antirussländischer Faden eingesponnen. Soweit zum „tragischen“ Teil hiesiger Reaktionen. Die Komödie darf freilich nicht fehlen. So klärte uns am 8. Juli der Deutschlandfunk auf, dass der Begriff Weißrussland politisch unkorrekt sei und eine nicht existente Verbindung zu Russland suggeriere. Es erinnert an die sowjetische GLAWLIT-Zensur, wie schnell alle großen Medien in Deutschland reagierten und auf den Begriff Belarus umschwenkten.

Hier kann ich nur eine sehr fragmentarische Beschreibung meiner Sicht auf die Ereignisse geben. Ich habe Belarus im vorigen Jahr im Mai, August und November bereist. Ein zunehmender Wind der Veränderung lag in der Luft.

Kein ernsthafter Beobachter bestreitet bislang, dass Alexander Lukaschenko mit der Mehrheit der Stimmen gewählt wurde. Die Schätzungen liegen bei 55 bis 65 Prozent. Und wäre das reale Ergebnis veröffentlich worden, so wären sicher nicht so viele Menschen den Protestaufrufen gefolgt. Der berechtigte Aufruhr der Bürger richtet sich gegen die Lügen der Politik und mehrheitlich nicht gegen das Gesellschaftssystem. Die augenscheinlich von einem Teil der Staatsbürokratie, möglicherweise sogar ohne direkte Anweisung des Präsidenten, organisierte Verfälschung des Wahlergebnisses brachte das Fass zum Überlaufen.

Wäre der Präsident nicht noch einmal zur Wahl angetreten, er wäre wohl vorwiegend positiv im Gedächtnis der Mehrheit der Belarussen geblieben. Reiht er sich nun ein für alle Mal in die lange Phalanx jener Politiker ein, die zum Ende ihrer Karriere ihre Verdienste, ihr Lebenswerk und ihre Person nachhaltig beschädigen, weil sie nicht loslassen wollen?

Die Skurrilität des Präsidenten Alexander Lukaschenko, die ihm innenpolitisch lange Zeit nicht sonderlich geschadet hat, schlug immer mehr ins Absurde um. Seine antirussländischen Ausfälle mögen ein Tribut an die angestrebte weitere Annäherung an den Westen gewesen sein, haben ihm aber genauso geschadet, wie ein rasanter Verlust der Anerkennung der Realität und die Überschätzung der eigenen Person und Fähigkeiten. Der Kaiser gefiel sich immer mehr in den Kleidern, die seine Hofkamarilla pries. Da nutzt es ihm auch nicht, dass er sich offenbar nicht persönlich bereicherte. Geheime ausländische Konten und Immobilen jedenfalls sind Lukaschenko bisher nicht nachgesagt worden.

Die bisherigen Auseinandersetzungen haben zugleich gezeigt, dass er kein blutrünstiges Monster ist. Aber offenbar auch keiner, der so einfach davonläuft. Der Mann tickt anders, als die übliche Diktatoren-Schablone vermuten lässt.

Zum tieferen Verständnis muss man sich das Gesellschaftmodell des Landes und die handelnden Kräfte und Akteure anschauen. Hier gibt es gravierende Unterschiede zu anderen postsowjetischen Staaten und vor allem zu der oft als Vergleich hinzugezogenen Ukraine.

Belarus hat ein staatskapitalistisches Wirtschaftssystem, das von der staatlichen Bürokratie geleitet und verwaltet wird. Der darüberstehende und Wirtschaft wie Staat dominierende politische Überbau ist autokratisch, paternalistisch und – sozial. Groß- und Schlüsselbetriebe sind in staatlicher Hand. An der Spitze thront der Präsident. Die Politik dominiert und kommandiert die Wirtschaft.

Daneben sind viele Weißrussen mittlerweile in privaten mittleren und kleinen Unternehmen oder als Selbständige in Handel und Dienstleistung tätig. Unzählige arbeiten im westlichen oder östlichen Ausland. Dieser Sektor wird von Staat sowohl gefördert als auch, oft unberechenbar, gegängelt. Anstelle von Oligarchen oder anderen privaten Eigentümern fungieren staatlich eingesetzte Manager als operative Leiter der wichtigsten und vor allem der profitablen Bereiche. Banken werden vom Staat überwacht, und Grund und Boden werden nicht frei gehandelt, sondern lediglich, vergleichbar der hiesigen Erbpacht, langfristig an private Nutzer übergeben. Ausländische Investoren haben nur eine Chance im überwachten produktiven Sektor. Spekulanten oder große Anleger wie Hedgefonds sind bislang nie zum Zuge gekommen. All dies ist westlichen Adepten, zumal neokonservativen, der „freien“ Marktwirtschaft seit Jahrzehnten ein Gräuel.

Der Staat in Belarus hat ein umfassendes und weitgehend funktionierendes Sozial- und Bildungssystem aufgebaut, das, auf bescheidenem Niveau, selbst unter den harten Bedingungen der langjährigen westlichen wirtschaftlichen Boykottpolitik, die Verarmung und Entwurzelung der Bevölkerung verhinderte.

Damit verbunden war aber auch die gewaltsame Verhinderung der Bildung einer echten kapitalistischen Eigentümerklasse, indem man die Manager der Betriebe und Banken regelmäßig, unter teilweise fragwürdigen Bedingungen, austauschte. Ebenso und aus den gleichen Gründen „rotierten“ fast alle Spitzenfunktionäre. Nur einer blieb 26 Jahre auf seinem Posten.

Den Kern der aktuellen Massenproteste bilden daher auch jene sozialen Schichten, die im System Lukaschenko keine Perspektive sehen. Vor allem die zum Eigentum strebende mächtige Bürokratie möchte das Korsett des Systems sprengen. Dass es, außer der Losung „der Präsident muss weg“, kein politisches oder gar wirtschaftliches Programm gibt und dass die „Revolutionsikone“ Swetlana Tichanowskaja als politischer Figur unbedeutend ist, ist keine Schwäche, sondern die Stärke der Bewegung. So werden die eigentlichen Ziele gut verdeckt und sollen auch jene verlocken, die nach einem Umbruch als Verlierer dastehen werden. Die Landarbeiter in den funktionierenden Genossenschaften, die Arbeiter in den Großbetrieben, die – trotz teilweiser Unterbeschäftigung – bislang nicht auf die Straße flogen. Die Lehrer, Ärzte und die kleinen Angestellten. Sie waren es, die bisher das treue Elektorat für Lukaschenko bildeten.

Warum stehen sie aber nicht auf und verteidigen ihre Zukunft? Das liegt nicht nur daran, dass diese Menschengruppen nicht der Generation Flashmob angehören und Straßenproteste eher nicht zu ihren Verhaltensmustern zählen. Sie wurden vom Sozial-Paternalismus entmündigt. So haben der Präsident und sein Machtsystem stets verhindert, dass sie eigene Interessenvertretungen bilden konnten. Unabhängige Gewerkschaften oder gar Parteien seien unnötig, man kümmere sich um das Wohl des Volkes, so lautete die beschwichtigende Botschaft. Auch damit wurde der Boden für eine neoliberale Wende gut bestellt.

Erleben wir daher jetzt ein Kiew reloaded?

Die einzige Lösung für alle sich gegenüberstehenden, konstruktiven Kräfte und der einzige Weg, das Kind nicht mit dem Bad auszuschütten, ist aus meiner Sicht ein sachlicher nationaler Dialog ohne ausländische Einmischung. Dazu hat es aus Moskau von Außenminister Lawrow in den letzten Tagen ermutigende Signale gegeben, und es gibt Anzeichen dafür, dass hinter den Kulissen auch in der EU Kräfte aktiv sind, denen an einer Eskalation nicht gelegen scheint. Selbst die USA zeigen unerwartete Zurückhaltung. Verdeckte Einmischung von außen ist aber nicht von der Hand zu weisen. Waren gar Polen, Litauen und die Ukraine hier auf eigene Rechnung und mit Plänen aus der historischen Mottenkiste am Werk? Wir werden es vielleicht später einmal genauer erfahren.

Mich beunruhigt eine scheinbare Nebensächlichkeit: die weiß-rote Symbolik der Protestierenden. Diese rührt von der kurzlebigen, zunächst auf kaiserlich-deutsche und dann polnische Bajonette gestützte Belarussische Volksrepublik im Jahr 1918 her. Unter diesen Fahnen wurden unzählige unschuldige Menschen ermordet, deren einziger Fehler es war, Russe oder Jude zu sein oder im Verdacht zu stehen, dem Bolschewismus anzuhängen. Solche weiß-roten Fahnen waren das Symbol der einheimischen Kollaborateure von 1941 bis 1944, die gemeinsam mit den deutschen Besatzern Massenmorde an der jüdischen Bevölkerung verübten und brutal jeden antifaschistischen Widerstand niederschlugen.

Wie sich die gegenwärtige Pattsituation letztendlich auflöst, kann niemand voraussagen. Die Belarussen beider, sich scheinbar unversöhnlich gegenüberstehenden Lager haben es in der Hand. Vielleicht trennt sie gar nicht so viel, wie manche meinen. Vielleicht ist der Graben doch schmaler als man glaubt. Kann man sich in Ruhe einigen, was erhalten bleiben soll und was und wer verschwinden sollte? Oder endet es in sozialem Chaos und wirtschaftlicher Zerstörung?

Vielleicht greift diesmal das Wort des früheren russischen Premiers Wiktor Tschernomyrdin einmal nicht: „Wir wollten das Beste, aber dann passierte das Übliche.“

Die Gespräche mit meinen Freunden und Bekannten in Belarus und die letzten Nachrichten lassen mich vorsichtig optimistisch sein.

Abgeschlossen am 25. August 2020.