Die Belt and Road Initiative Chinas, auch Neue Seidenstraße genannt, nimmt trotz aller Kritik und Widerstände sowie einiger Rückschläge Gestalt an. Das Projekt greift schon jetzt in das Welthandelsgefüge ein und wird nach Meinung von Ökonomen zu einer Neuordnung verschiedener Handelsrouten führen. Das Vorhaben wurde 2013 durch den neu gewählten Präsidenten Xi verkündet und ist ein Ausdruck seiner Vision vom raschen Aufstieg Chinas zu einer Weltmacht. Es sieht Investitionen von über einer Billion US-Dollar vor. Obwohl kein zusammenhängendes Konzept präsentiert wurde, sind zwei Hauptstränge klar zu erkennen. Das sind die Landroute, die von Westchina über Schiene und Straße bis nach Europa verläuft, und die Seeroute, die dem klassischen Seeweg von China über Südasien nach Nahost – mit einem Abstecher zur afrikanischen Küste – und Südeuropa folgt. In fast allen an diesen Routen liegenden Staaten investiert China. Es entstehen Straßen, Schienennetze, Flughäfen, Brücken, Staudämme, Hochseehäfen, Kraftwerke sowie Industrieanlagen.
Bemerkenswerterweise fehlt in diesem Netz Indien mit seiner langen Küste, den großen Häfen und den traditionellen Landrouten. Diese verliefen früher von Russland und Westchina über Mittelasien, Afghanistan und das Karakorum-Gebirge durch den Subkontinent, vornehmlich den Indus entlang. Heute gehört dieses Gebiet zu Pakistan, das auf seinem Territorium einen Seitenstrang der Seidenstraße von Westchina zum Indischen Ozean aufnimmt. Hier bauen China und der pakistanische Staat seit 2015 den „Ökonomischen Korridor“. Für diese Trasse, das wohl bedeutendste Vorhaben des gesamten Seidenstraßen-Projektes, ist das anfängliche chinesische Investitionsvolumen von 45 Milliarden auf jetzt schätzungsweise 87 Milliarden US-Dollar angestiegen.
Trotz des Interesses Chinas an einer Teilnahme Indiens am Projekt Neue Seidenstraße steht Neu Delhi diesem von Anfang an ablehnend gegenüber. Obwohl bedeutende Investitionen locken, will Indien sich in keiner Form von seinem großen Nachbarn abhängig machen – ein sichtbares Zeichen für die unveränderte Rivalität zwischen den beiden asiatischen Großmächten. Darüber hinaus schaut Indien mit Argwohn auf das Geschehen im Nachbarland Pakistan, wo durch die umfangreichen chinesischen Investitionen eine allseitige Stärkung des Erzfeindes erfolgt. Indien befürchtet eine totale Abhängigkeit Pakistans von China, die die bestehenden Sicherheitsprobleme zwischen Indien und Pakistan verschärfen könnten. Schließlich gibt es noch einen dritten Grund: aus indischer Sicht ist der Bau des Wirtschaftskorridors, der teilweise durch von Indien beanspruchtes Gebiet führt, nicht rechtmäßig. In der Tat verläuft die Trasse – einer Autostraße sollen Pipelines und eine Eisenbahnverbindung folgen – durch einen Teil des ehemaligen Fürstentums Kaschmir. Dieses Gebiet wurde in den Wirren der Teilung des Subkontinents 1947 von Pakistan besetzt und dessen Staatsgebiet zugeschlagen. Indien erkennt die Annexion nicht an, bezeichnet das Gebiet als „von Pakistan okkupiertes Kaschmir“.
Obwohl China von einem „Kaschmir-Problem“ spricht und für dessen Lösung bilaterale Verhandlungen zwischen Indien und Pakistan befürwortet, brüskiert es den Anspruch Indiens und zieht das Gebiet in seine Wirtschaftstätigkeit ein.
In den letzten Jahren hat sich der Karakorum-Gebirgszug, wo die Staatsgebiete Chinas, Indiens, Pakistans und Afghanistans zusammentreffen, immer mehr zu einem neuralgischen Punkt entwickelt. Hier verläuft den Karakorum-Highway über den Khunjerab Pass entlang die Hauptverbindung von China nach Pakistan. Doch die Grenzen von Pakistan und China zu Indien sind in diesem Gebiet nicht eindeutig festgelegt, gegenseitige Ansprüche überlappen sich. Bereits 1999 gab es deshalb in der Region Kargil am Siachen-Gletscher zwischen indischen und pakistanischen Truppen eine größere Auseinandersetzung.
China baut seit 2013/14 um den Karakorum-Highway auf dem von ihm beanspruchten Territorium verstärkt die militärische Infrastruktur aus und besetzt strategische Geländepunkte. Indien nimmt das chinesische Vorgehen nicht hin und hat seinerseits begonnen, Straßen zu bauen und militärische Kontrollpunkte einzurichten. Häufige Zusammenstöße zwischen Grenzsoldaten beider Staaten führten letztendlich zu den schweren Zwischenfällen der vergangenen Monate. Mittlerweile haben sowohl Indien als auch China in diesem Gebiet militärisch aufgerüstet. Man spricht von mehr als 10.000 Soldaten auf beiden Seiten, selbst Panzer und Flugzeuge stehen bereit. Nach wie vor gibt es Gespräche auf militärischer und diplomatischer Ebene, durchgreifende Ergebnisse sind jedoch nicht in Sicht, da Indien auf einer Wiederherstellung des status quo ante besteht, was eine Aufgabe chinesischer Vorposten bedeuten würde.
Vornehmlich englischsprachige Medien vergleichen diese Konfrontation mit dem big game, dem „Großen Spiel“ – ein Begriff vom Ende des 19. Jahrhunderts, als es in diesen Gebieten ein Ringen um Einflusszonen zwischen dem zaristischen Russland und der Kolonialmacht England gab, das mit einem Kompromiss endete. Doch heute scheint hier bereits alles entschieden zu sein. Die Landroute der Neuen Seidenstraße mit ihren Verzweigungen entwickelt sich immer mehr zu einem Wirtschaftsgürtel, in dem süd-, west- und zentralasiatischen Staaten mit China eng zusammenarbeiten. Der chinesische Außenminister beriet am 27. Juli mittels Videokonferenz gemeinsam mit Ministern Pakistans, Afghanistans und Nepals weitere Vorhaben. Er verkündete selbstbewusst, dass Afghanistan an das Seidenstraßennetz in Pakistan angebunden werde. Dazu würden Eisenbahn- und Straßenverbindungen neu geschaffen oder hoch modernisiert.
Allein für das pakistanische Schienennetz wurden dieser Tage 6,8 Milliarden US-Dollar freigegeben. Auch eine Eisenbahnverbindung von Usbekistan nach Afghanistan und Pakistan ist geplant. Ein „Transhimalaya-Korridor“ von China über Tibet und Nepal soll im Karakorum an die dort schon vorhandenen Verbindungen angeschlossen werden. In Zukunft wird dieser breite Streifen chinesischer Wirtschaftsaktivität durch den Iran ergänzt und damit die Lücke zur Türkei und Syrien bis zum Mittelmeer hin sowie in den Irak geschlossen werden.
Anfang Juli wurde bekannt, dass der Iran mit China ein langfristiges Abkommen abgeschlossen hat, das in den nächsten 25 Jahren unter anderem chinesische Investitionen von 400 Milliarden US-Dollar vorsieht.
Indien hat all diesen Aktivitäten nicht viel entgegen zu setzen. Es fehlen die wirtschaftliche Stärke und zielgerichtete politische Vorgaben. Zudem bekommt Delhi den Einfluss Chinas in einigen Nachbarstaaten zu spüren, die – wie Nepal – plötzlich territoriale Ansprüche an Indien stellen oder wie Iran, der den Weiterbau des von Indien finanzierten Hafens Chabahar in Frage stellt. Indien reiht sich daher in den Kreis derjenigen ein, die nicht die Vorteile des Projekts Neue Seidenstraße, sondern negative Aspekte wie drohende Schuldenfalle, wirtschaftliche und politische Abhängigkeit sowie Intransparenz – vor allem durch die Abwicklung der Großprojekte fast ausschließlich durch chinesische Firmen mit deren Arbeitskräften und Material – in den Vordergrund stellen.
Trotz der geschilderten offiziellen Haltung beschäftigt die Thematik Neue Seidenstraße die indische Öffentlichkeit und die aufstrebende Wirtschaft. Nach wie vor ist in Indien Bewunderung über den phänomenalen Aufstieg Chinas zu spüren. Gemessen an wichtigen ökonomischen Kennziffern hat es bei einst gleicher Ausgangslage in 40 Jahren Indien um ein Mehrfaches überholt. Jedoch ist ein Umdenken in der Seidenstraßen-Problematik durch die gegenwärtige Regierung nicht in Sicht. Im Gegenteil, angeheizt durch die Grenzstreitigkeiten werden antichinesische Vorurteile bedient und fragwürdige Maßnahmen beschlossen, die den gut entwickelten bilateralen Beziehungen schaden. Indien, wie China großer Nutznießer der Globalisierung, kann sich aber nicht partiell aus dieser herauskatapultieren. Es muss nach Wegen suchen, um sich auch mit dem politisch und wirtschaftlich ungeliebten Seidenstraßen-Projekt zu arrangieren.
Aber auch Chinas Politik wirft Fragen auf. Denn mit seiner Eskalation der Grenzprobleme trägt es beträchtlich zu einer Stärkung der nationalistisch ausgerichteten Politik in Indien bei und zerstört für Jahre den auf dem Subkontinent insgesamt bestehenden Goodwill im Hinblick auf den großen Nachbarn.
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